Die Letten dürfen ihre Stimme nicht an Russland abgeben
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Anlässlich der bevorstehenden EU-Wahlen hat das Europäische Parlament (EP) eine Kampagne gestartet, die betont, welche Bedeutung die Stimmabgabe für den Schutz der Demokratie hat. Ihr Slogan: „Nutze deine Stimme. Sonst entscheiden andere für dich.“
Was weder das EP noch die Wahlkommission Lettlands direkt sagen: diese „anderen“ sind Russland. Beide Institutionen versuchen jedoch offensichtlich, genau diese Botschaft zu vermitteln. Ein Video aus der EU-Kampagne zeigt Großeltern, die ihren Enkeln von den Schrecken des Krieges erzählen und von ihrem Kampf um Freiheit. Dabei fungiert der Zweite Weltkrieg als direkte Entsprechung zum blutigen Krieg des Kremls in der Ukraine und den russischen Versuchen, die Gesellschaften anderer Länder und die demokratischen Entscheidungen ihrer Bevölkerung zu beeinflussen.
Russland will die Erfolge seines hybriden Krieges in den Ergebnissen der Wahlen sehen, die zu den „wichtigsten Leistungsindikatoren“ des Kremls zählen. Und die Bemühungen scheinen nicht vergeblich zu sein. Das zeigte sich z. B. in der Slowakei: Dort bedurfte es nur einer Wahl und der einstige Verbündete der Ukraine beschloss, Waffenlieferungen an Kiew seien unnötig. Oder Ungarn, das mit allen denkbaren Tricks versucht, die Ukraine zu unterminieren.
In einem Interview mit Delfi TV brachte es der ehemalige lettische Präsident Valdis Zatlers auf den Punkt: „Dies ist eine Kriegswahl.“Deshalb sollten die Menschen wählen gehen. Jeder Stimmzettel zählt. Wenn die berüchtigten Brüsseler Korridore auch noch so weit entfernt scheinen mögen – dort wird die Unterstützung Europas für die Ukraine geschmiedet.
Dieses Gesamtbild findet endlich mehr Beachtung. Bei den lettischen Parlamentswahlen 2022 stieg die Wahlbeteiligung von 58,85 % auf 59,43 %. Doch wie im übrigen Europa schenken die Letten der EU weit weniger Aufmerksamkeit als der lokalen Politik. So gaben bei der Wahl 2019 nur 33,53 % der lettischen Bevölkerung ihre Stimme ab, verglichen mit 30,24 % im Jahr 2014. In jedem Falle ist dies deutlich weniger als bei den Nationalwahlen.
Das ist schon deshalb verwunderlich, weil es in Lettland politische Parteien gibt, die sich über eine geringe Wahlbeteiligung freuen würden. Ein Kandidat – der Vorsitzende der Zentrumspartei – meint, die Halbinsel Krim gehöre zu Russland. Andere Kandidaten wollen die Beziehung Lettlands zur EU überdenken. Aus Sicht der Partei „Für Stabilität“ ist diese Wahl eine Entscheidung zwischen dem nationalen Interesse und dem Austritt aus der „erdrosselnden Union“. (Natürlich ist diese Partei auch für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland).
Die Situation vor der Europawahl sieht also nicht gerade rosig aus. Auf der einen Seite wächst die Apathie, auf der anderen Seite gibt es erfolgreiche Propaganda, die den lettischen Interessen entgegensteht
Der Vorsitzende der Partei „Souveräne Macht“ ist der Ansicht, der Krieg in der Ukraine sei von beiden Ländern begonnen worden. Die Partei „Allianz der Neuen Letten“ hat die ehemalige Abgeordnete Glorija Grevcova in ihre Reihen aufgenommen, die wegen Verherrlichung russischer Kriegsverbrechen verhaftet wurde, während der Kandidat von Saskaņas („Harmonie“) nicht sagen kann, ob Russland die Krim legal oder illegal besetzt hat. Die Partei „Latvia First“ wiederum befürwortet eine enge Zusammenarbeit mit China und scheint sich der Strategie der chinesischen Kommunistischen Partei zur „Entwaffnung“ Europas voll und ganz anzuschließen.
Die Geschichte mahnt uns zur Wachsamkeit: Lettland wird seit Jahren u. A. durch die Europaabgeordnete Tatjana Ždanoka vertreten, deren Zusammenarbeit mit den russischen Sicherheitsdiensten journalistisch gut dokumentiert ist. Ist sie die Einzige?
Ihre Partei wurde aufgrund einer Formalität von den diesjährigen Wahlen ausgeschlossen. Doch die Maßnahme der lettischen Behörden wirft die Frage auf: An wen gehen nun die Stimmen der ehemaligen Ždanoka-Wähler? Sie werden heftig umkämpft sein.
Deshalb braucht es umso mehr Stimmen für die Parteien, die sich für Lettland und demokratische Werte einsetzen und eine klare Position zur Ukraine beziehen. Die meisten der 16 zur Wahl antretenden Parteien entsprechen dieser Beschreibung, seien es rechte, Links-Mitte- oder linke Parteien. Die Menschen haben die Wahl.
Abgesehen von der Haltung einzelner EP-Kandidaten sind in Lettland noch andere unheilvolle Entwicklungen zu beobachten. Kürzlich wurde ein Brandanschlag auf das Besatzungsmuseum verübt und auch das Eisenbahnnetz scheint Ziel von Sabotageakten gewesen zu sein. Am 9. Mai, während auf dem Roten Platz der Sieg über den Nationalsozialismus gefeiert wurde, verbreiteten organisierte Gruppen in den lettischen sozialen Medien Putin-Propaganda.
Wenn man sich also fragt, was bei diesen Wahlen für Lettland auf dem Spiel steht, liegt die Antwort auf der Hand: die Sicherheit. Dennoch scheinen die Letten in dieser Frage geteilter Meinung zu sein. In einer kürzlich von der Regierung durchgeführten Umfrage erklärten mehr Menschen als je zuvor, dass sie der Nachrichten über den Krieg überdrüssig seien.
Im Vergleich zur letzten Umfrage dieser Art im März 2022 gaben deutlich weniger Befragte an, dass der Krieg auf sie persönlich negative Auswirkungen habe. Jede siebte Person beschrieb ihr diesbezügliches Gefühl in der vergangenen Woche als „Gleichgültigkeit“. Mehr Sorge bereiten den Letten nach wie vor die Armut, die Lebenshaltungskosten und die Gesundheitsversorgung. Leider scheint sich die Lage auch in diesen Bereichen nicht zu bessern.
Die Situation vor der Europawahl sieht also nicht gerade rosig aus. Auf der einen Seite wächst die Apathie, auf der anderen Seite gibt es erfolgreiche Propaganda, die den lettischen Interessen entgegensteht.
Vor den Wahlen sagten die öffentlich-rechtlichen Medien auf Druck der Öffentlichkeit und der Politiker schließlich die Wahldebatte in russischer Sprache ab, die sich an die Minderheiten richten sollte. In den sozialen Netzwerken und in der Öffentlichkeit brach ein regelrechter Sturm der Entrüstung aus. Einige Parteien weigerten sich, an der Debatte teilzunehmen und verlagerten die Diskussion von den Wahlen auf die Sprachpolitik. Wie sich dies auf die Wahlbeteiligung auswirken wird, ist noch nicht abzusehen.
Von Zeit zu Zeit hört man Diskussionen darüber, ob Wählen ein Privileg oder eine Pflicht sei. Doch in der heutigen Welt der balkanisierten Informationen sollte es oberstes Gebot sein, die Botschaft zu verbreiten, dass diese Wahl überhaupt stattfindet. Die Menschen müssen wissen, was das Europäische Parlament ist und was es tut. Dabei sind die Medien wirklich unverzichtbar – und sei es nur, um die Menschen zum Wählen zu motivieren, selbst wenn an diesem Tag bereits ein Grillfest oder ein Familienausflug geplant ist.
Die Bürgerinnen und Bürger wissen die Vorteile der EU zu schätzen. Das Problem ist nur, dass sie die EU-Politik – all diese Institutionen und Initiativen – eher langweilig finden. Weder die Bürokraten noch die Politiker oder die Medien finden genügend gute Geschichten, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Es gibt zu viele Klischees und Slogans, und zu viel technokratisches Kleingedrucktes.
Doch in Lettland hat die kommende Wahl noch eine höhere Bedeutung. Hier geht es nicht mehr nur um den EU-Haushalt, die Probleme der Landwirtschaft, den grünen Wandel und die digitale Wirtschaft. Auf dem Spiel steht auch der anhaltende Krieg auf dem europäischen Kontinent. Diese einfache Tatsache ist greifbarer, eine reale Herausforderung. Und wir sollten alles in unserer Macht Stehende tun, um ihr gerecht zu werden.
Dieser Artikel ist Teil des Gemeinschaftsprojekts Voices of Europe 2024, an dem 27 Medien aus der ganzen EU beteiligt sind und das von Voxeurop koordiniert wird.
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