EU-Wahlen & Eurovision – das Stimmrecht in Ehren halten
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Dieser Artikel erscheint erstmals am Europatag, nur wenige Wochen vor den Europawahlen. Dieser einzigartige, multinationale demokratische Prozess wird wie üblich von etwas Befremden, Verdrossenheit, oder gar Angst begleitet sein. Und das, obwohl die Europäer nur wenige Stunden von einem anderen kontinentalen „Happening“ entfernt sind, bei dem, wie in einem Spiegeluniversum, Hunderte Millionen Menschen von Barcelona bis Bratislava, von Stockholm bis Sydney (sic!) aufgeregt zum Telefon greifen, um genau das Gleiche zu tun – zu wählen! Gemeinsam mit allen anderen auf dem Kontinent. Mesdames et Messieurs, Eurovision!
Der ESC ist wie ein Mähdrescher, der alljährlich seine immer unberechenbarer werdende Ernte an Exzentrik, Kitsch und schierer Herrlichkeit auswirft. Nichts könnte gleichzeitig so undenkbar und doch so freudig europäisch sein. Die Amerikaner haben dies auf ihre Kosten entdeckt: Vor zwei Jahren importierten sie die Idee und setzten sie nach einer Staffel wieder ab. Abgesehen davon, dass sie das Ganze über sechs Wochen in die Länge gezogen haben, kann „Hallo Texas, könnt ihr uns sagen, wie ihr abgestimmt habt?“ in keinem denkbaren Universum die gleiche historische Bedeutung haben und den gleichen Nervenkitzel erzeugen wie „Bonsoir Baku, können wir bitte die Stimmen der aserbaidschanischen Jury haben?“
Ich erinnere mich an eine Freundin aus Miami, die vor zehn Jahren zufällig während des Eurovisions-Wochenendes bei mir in Paris zu Gast war. Sie hatte vorher noch nie etwas davon gehört. Ich warnte sie, dass in meiner Wohnung am Samstagabend 40 hysterische Menschen aus aller Herren Länder sein würden, die Plastikfahnen schwenkten, Notizen auf weinbefleckten Bewertungskarten machten, twitterten und „den Moment teilten“. Ich erinnere mich noch heute an ihren Gesichtsausdruck, als sie nach dem 26. Lied aufstand und dachte, es sei endlich vorbei. „Oh nein, Isabel“, sagte ich zu ihr – „wir haben ja noch das Abstimmungsverfahren!“
Ob man es nun mag oder nicht (und viele sind darin vehement), es ist das einzige kontinentübergreifende Ereignis großen Ausmaßes. Die Europäer sehen zwar den Vereinen anderer Länder beim Fußballspielen zu, was Leidenschaft in den Stadien erzeugt, doch Fußball ist und bleibt ein grundsätzlich binäres Konzept. Im Gegensatz dazu versammelt sich seit nunmehr fast 70 Jahren ein ganzer Kontinent an einem Abend im Mai, um den Nachbarn auf die Finger zu schauen, wobei jedes Land insgeheim denkt, es sei das einzige, das das Ganze „nicht ernst nimmt“.
Die Ursprünge dieses viel belächelten Events sind jedoch bewundernswert und in der Tat sehr ergreifend. Mitte der 1950er Jahre war die europäische Solidarität gerade noch unter dem Kohlenstaub der kaum unterzeichneten Verträge zu erahnen. Dennoch beschlossen die Nationen, die sich kaum ein Jahrzehnt zuvor noch gegenseitig in Grund und Boden bombardierten, ausgerechnet einen fröhlichen musikalischen Wettbewerb zu veranstalten. Die Menschen sollten die gleichen Lieder mitsummen und die Melodien sollten einen fernen Hoffnungsschimmer auf eine bessere, gemeinsame Zukunft geben.
Auf ihre ganz eigene Art und Weise war die Eurovision während der turbulenten Jahrzehnte unserer unterschiedlichen nationalen und gemeinsamen Geschichte „für Europa da“. Am 6. April 1974 waren nicht alle von dem Auftritt begeistert, der zum Startschuss des tausendjährigen Musikphänomens ABBA wurde. Portugals Regime hatte gerade die Kommunikationssysteme zwischen Armee, Marine und Luftwaffe gestört, was einen gemeinsamen Aufstand unmöglich machte.
Die Aktivisten der Nelkenrevolution brauchten ein unerwartetes Signal, um auf die Straße zu gehen. Als Paulo de Carvalho auf der gleichen glanzvollen Bühne wie seine schwedischen Konkurrenten in ihren Glitzerhosen „E Depois do Adeus“ (dt. „Und nach dem Abschied“) sang, war dies genau das Signal, auf das die Revolutionäre gewartet hatten, um die älteste faschistische Diktatur Europas zu stürzen.
Von solchen Momenten gibt es viele. 1981 bat ein 20-jähriges deutsches Mädchen mit ihrer Gitarre lediglich um „ein bisschen Frieden auf unserer Erde“ und der ganze Kontinent stimmte ihr zu. Bei einem Interview im deutschen Fernsehen erinnerte sich die Sängerin Nicole kürzlich aus einem besonderen Grund an ihren Sieg. „Die Tatsache, dass Israel (angesichts unserer gemeinsamen Geschichte, die damals noch viel näher war) mir, einem deutschen Mädchen, das ein Lied über den Frieden singt, die maximale Punktzahl von 12 gegeben hat, bewegt mich bis heute.“
Im Jahr 2014 schien sich die Homophobie in ganz Osteuropa breit zu machen. Dennoch gab ein Land nach dem anderen der bärtigen Dragqueen Conchita Wurst, die ein Sixties-Revival im Bond-Stil sang, „12 Punkte“. Auf seine unnachahmliche Weise tat der Eurovision Song Contest das, was nur er kann – er gab einem ganzen Kontinent die Stimme, um angesichts Putins Homophobie ein glasklares Nein zu formulieren. Ebenso hätte im Jahr 2022 das ukrainische Kalush-Orchester mit seiner eindringlichen Rap-Hymne Stefania immer gewonnen, ganz unabhängig von der Musik. Was zählte, war Europa und die ausnahmsweise gemeinsame Sprache aller.
Dennoch beschlossen die Nationen, die sich kaum ein Jahrzehnt zuvor noch gegenseitig in Grund und Boden bombardierten, ausgerechnet einen fröhlichen musikalischen Wettbewerb zu veranstalten
Viele Menschen haben ihre eigene Eurovisionsgeschichte – ich eingeschlossen. Als schwuler Junge, der allein im Großbritannien der sechziger Jahre aufwuchs, wo Homosexuelle ins Gefängnis kamen, erinnere ich mich noch gut an Sandie Shaw, die barfüßige Sängerin, die mit Puppet on a String gewann. Diese kontinentale Extravaganz, in flackerndem Schwarz-Weiß in mein Schlafzimmer gebeamt, sprach irgendwie von Menschen, Orten und wunderbaren Sprachen anderswo, wo ich vielleicht eines Tages frei und ich selbst sein könnte. Damals wusste nicht, dass ich viele Jahre später, 2004, der erste Brite sein würde, der „les points“ für Frankreich geben durfte, während hinter mir der Eiffelturm auf einer grünen Leinwand glitzerte. Dies war ein Moment meiner 30-jährigen Karriere im französischen Fernsehen, der wirklich etwas bedeutete, zumindest für den kleinen Jungen und für mich.
Und so kommt die Eurovision wie eine unberechenbare, exzentrische Tante wieder einmal zu Besuch. Die diesjährige Version ist wie immer extravagant und ein bisschen skurril, wenn auch mit deutlich besseren und oft spektakuläreren Produktionswerten als noch vor einem Jahrzehnt. Der albernste Beitrag ist wohl der aus den Niederlanden, einer der diesjährigen Favoriten: Europapa. Mit der europäischen Flagge auf den Schultern und in einer verwirrenden Vielzahl von Sprachen singend, sagt Joost Klein in einer kitschigen Parodie des Euro-Pop „dankeschön, merci und grazie“ zu seinem Vater und einer ganzen Generation, die ihn in einer schönen „Welt ohne Grenzen“ großgezogen hat.
Das, Mesdames et Messieurs, war die Welt, in der wir im Moment noch leben. Die Welt, die wir – wenn wir uns genug dafür interessieren – in ein paar Wochen wählen, damit unsere Kinder sie behalten werden. Einige von ihnen werden vielleicht sogar selbst dafür stimmen, nachdem sie von ihren britischen Freunden unter 25 Jahren gehört haben, die am 24. Juni 2016 „Was ist die EU?“ gegoogelt und plötzlich festgestellt haben, dass ihnen die ältere Generation unerwartet alle Türen vor der Nase zugeschlagen hat.
Diese Eltern hätten es besser wissen müssen, und jeder einzelnen Meinungsumfrage zufolge tun sie es jetzt offenbar auch. Dieselbe Tür haben viele tapfere Georgier in den letzten Wochen verzweifelt versucht zu öffnen, bewaffnet mit nichts weiter als ihren schönen blau-gelben Fahnen, gegen die Wasserwerfer der georgischen Polizei, die von Putins Marionetten geschickt wurde.
Das Ende von Europapa ist erschreckend, so kitschig sind die restlichen 2'30 Minuten: Das bunte und multikulturelle Holzhaus der Auberge espagnole von Joost Klein mit all seinen Flaggen und Freiheiten brennt plötzlich vor den Augen aller in apokalyptischen Flammen nieder. Wenn wir nicht anfangen, uns mehr um die europäische Demokratie zu kümmern als um einen Gesangswettbewerb, ist diese unheimliche Vision wahrscheinlich ein Geheimnis, das uns die Eurovision auf ihre eigene Weise verzweifelt zu vermitteln versucht.
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1 | image | Emanuele Del Rosso euroDIvision | |
2 | image | Manel Navarro | Kyiv 2017 | ©Chemichki:Depositphotos | |
3 | image | Wolterink_EU_Elections |