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Der europäische „Rechtsruck“, ein Test für die Parteien der Mitte

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Seit Geert Wilders mit seiner rechtspopulistischen Partei PVV bei der niederländischen Parlamentswahl im November einen großen Sieg errungen hat, sind die Augen Europas auf die Niederlande gerichtet. Ist sein Erfolg ein Vorbote für die Europawahl? Umgekehrt beobachten die niederländischen Parteien der Mitte das übrige Europa voller Sorge: Werden sich die Rechtspopulist*innen auch in anderen Mitgliedstaaten durchsetzen?

Die potenzielle Wahrscheinlichkeit einer Regierungsbeteiligung der PVV hat in Brüssel bereits ein erstes Opfer gefordert. Im Januar musste der niederländische Europaabgeordnete Malik Azmani, der als Vorsitzender der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament gehandelt wurde, seine Kandidatur für diese einflussreiche Position zurückziehen, da seine französischen Kolleg*innen von Macrons Bewegung En Marche ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Verhandlungen von Azmanis Partei mit der PVV von Geert Wilders hatten. ‚Wenn das Risiko besteht, dass die Situation in den Niederlanden zu einer Spaltung innerhalb der liberalen Fraktion führt, fühle ich mich nicht wohl dabei, als Kandidat anzutreten‘, so seine Erklärung.

Es ist noch nicht lange her, dass Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, triumphierend erklärte, die Europäische Union sei stärker denn je. In ihrer jährlichen Rede zur Lage der Union im September hob die deutsche Politikerin stolz hervor, was die Europäische Kommission seit ihrem Amtsantritt 2019 erreicht hat: das Entstehen eines starken ‚geopolitischen‘ Europas angesichts der russischen Bedrohung, den Europäischen Green Deal als ‚Herzstück unserer Wirtschaft‘ und bedeutende Fortschritte beim digitalen Wandel. Europa, so von der Leyen, sei geeint, um dem ‚Ruf der Geschichte‘ zu folgen.


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Von dieser Aufbruchstimmung ist jedoch nur noch wenig übrig geblieben. Die Unterstützung für die Ukraine gerät fast überall in Europa ins Wanken, und der Green Deal, das Kernstück der Politik der Europäischen Kommission, wurde in den letzten Monaten erheblich verwässert. 


Die große Frage ist nun: Sind die Sorgen über einen ‚Rechtsruck‘ berechtigt?


Die Europawahl im Juni wirft einen langen Schatten. Meinungsumfragen in den meisten europäischen Ländern deuten auf einen Rechtsruck hin, sehr zum Leidwesen der etablierten Parteien. In der Slowakei stellt sich die Regierung von Robert Fico immer offener auf die Seite des ungarischen Brandstifters Viktor Orbán, der seit Jahren immer wieder gezeigt hat, dass er in der Lage ist, die Brüsseler Entscheidungsfindung effektiv zu erpressen. In Portugal wurde die sozialdemokratische Partei Anfang März von der Mitte-Rechts-Demokratischen Allianz besiegt, und die rechtsradikale Chega erzielte einen unerwarteten Sieg.

In Frankreich spürt Emmanuel Macron den Druck von Marine Le Pen im Nacken. In Deutschland sieht sich der erfolglose Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem Aufstieg der Alternative für Deutschland konfrontiert, die laut Umfragen bereits die drittstärkste Partei des Landes ist.

Und in den Niederlanden arbeitet die rechtspopulistische PVV von Geert Wilders, die seit den Parlamentswahlen im November mit Abstand die größte Partei ist, an der Bildung einer Regierung mit der liberalen VVD, der christdemokratischen Sezessionspartei NSC und der BoerBurgerBeweging (Bauern-Bürger-Bewegung), einem Ableger des Bauernprotests.

Unter dem Druck der eskalierenden Bauernproteste in weiten Teilen Europas haben sich nun auch die europäischen Christdemokrat*innen gegen das Naturwiederherstellungsgesetz der Europäischen Kommission gewandt, das infolgedessen aller Voraussicht nach nicht verabschiedet werden wird. Nicht zuletzt als Reaktion auf die heftigen Kampagnen der Landwirt*innen, auch im Herzen Brüssels, haben die Kommission und die Mitgliedstaaten Ende März eine Reihe von Zugeständnissen beschlossen, die die grünen Pläne zum Scheitern bringen sollen. Dazu gehören die Aufhebung der Verpflichtung, Teile der Flächen unbewirtschaftet zu lassen, und die Befreiung der Kleinbäuerinnen und -bauern von Kontrollen.

Unterdessen muss der ehemalige EU-Kommissar Frans Timmermans, einer der Hauptbefürworter des Green Deal und des Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur, in den Niederlanden zusehen, wie sein Erbe in kürzester Zeit zunichte gemacht wird.

In den europäischen Medien wird die Revolte gegen die Umweltpolitik als Vorzeichen für das gesehen, was Europa in anderen Bereichen zu erwarten hat, z. B. bei der Migration, der Unterstützung für die Ukraine und der weiteren Erweiterung der Union, die von der Leyen so leidenschaftlich wünscht, die von den meisten rechtspopulistischen Parteien aber als zutiefst beleidigend empfunden wird. Die große Frage ist nun: Sind die Sorgen über einen ‚Rechtsruck‘ berechtigt?

Während der große Sieg von Geert Wilders bei den niederländischen Parlamentswahlen im November in mehreren europäischen Mitgliedstaaten einen Schock ausgelöst haben mag, wird der PVV-Vorsitzende bei den Gesprächen zur Bildung der neuen Regierung von allen Seiten bedrängt, um zu verhindern, dass diese Opfer populistischer Launen wird. Im Laufe der Verhandlungen musste Wilders bereits akzeptieren, dass er nicht Ministerpräsident wird, und er musste eine Reihe von Zugeständnissen zugunsten der Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte machen.

In den kommenden Monaten wird er sich auch zu einer soliden Finanz- und Außenpolitik – mit anderen Worten: zur weiteren Unterstützung der Ukraine – verpflichten müssen, wenn das neue niederländische Kabinett überhaupt eine Chance haben soll, Realität zu werden. Es gibt noch andere Beispiele in Europa, die ebenfalls Fragen über den ‚unaufhaltsamen‘ Aufstieg des Rechtspopulismus aufwerfen. Im vergangenen Dezember wurde der ehemalige Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, zum Ministerpräsidenten in Polen gewählt, was – sehr zur Erleichterung von Tusks europäischen Verbündeten – die jahrelange Herrschaft der europaskeptischen PiS-Partei beendete.

In Spanien liegen die Partido Popular und die Sozialdemokrat*innen in den Umfragen vorn, die kleineren Parteien bleiben zurück. In Ungarn gingen kürzlich Zehntausende von Ungar*innen auf die Straße, um gegen die Regierung von Viktor Orbán und für seinen Wahlgegner, den pro-europäischen Péter Magyar, zu protestieren.

Der überraschende Aufstieg der BoerBurgerBeweging in den Niederlanden, der durch die Proteste der Landwirt*innen ausgelöst wurde, wurde auch in anderen europäischen Ländern mit Besorgnis aufgenommen, als hätten randalierende Landwirt*innen mit einem populistischen Vehikel das Herz der Demokratie erobert. Dabei unterscheidet sich die Philosophie der neuen Partei eigentlich nur wenig von der traditionellen Christdemokratie, ebenso wie die NSC, die neue Partei des ehemaligen CDA-Politikers Pieter Omtzigt. Das zeigt sich schon bei der Auswahl der Kandidierenden für die Europawahl im Juni, bei der die Parteien zum ersten Mal antreten: Die Kandidierendenlisten beider Parteien – einschließlich ihrer Spitzenkandidierenden – bestehen fast ausschließlich aus ehemaligen Christdemokrat*innen.

Abgesehen davon haben zahlreiche Studien in den vergangenen Jahren gezeigt, dass der Erfolg populistischer Parteien nicht so sehr von diesen selbst, sondern vor allem von der Bereitschaft der traditionellen Parteien der Mitte abhängt, die Sorgen der Wählerschaft ernst zu nehmen, ohne ihre eigenen Prinzipien aufzugeben.

Das wird sowohl bei der Kabinettsbildung in den Niederlanden als auch bei der Europawahl im Juni der große Test sein: Lassen sich die traditionellen Parteien von der Angst vor einer drohenden populistischen Revolte treiben oder schaffen sie es, standhaft zu bleiben?

Dieser Artikel ist Teil des Gemeinschaftsprojekts Voices of Europe 2024, an dem 27 Medien aus der ganzen EU beteiligt sind und das von Voxeurop koordiniert wird.

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1imageNetherlands Madeleina Kay