REPCO

Replication & Collector

Europas Brückenbauer mit eigennützigen Hintergedanken

UID: eayt3z537ajwarsbdrsc2ngiz74
Revision: vayt3z54cqpyqr6rwuhvjypc6hu

„Als kleines Land sind wir von Natur aus Brückenbauer.“ Mit diesen Worten brachte Xavier Bettel jüngst das Selbstverständnis Luxemburgs in der Europapolitik auf den Punkt. Zwar musste der Liberale im Herbst nach einem Jahrzehnt den Posten des Regierungschefs aufgeben. Als Außenminister pflegt er allerdings weiter das Image Luxemburgs als leidenschaftlicher Verfechter der europäischen Solidarität – und bringt sich damit auch recht offensiv als Anwärter für das Amt des EU-Ratspräsidenten ins Spiel.

Was Bettel und andere Luxemburger Spitzenpolitiker aber nur selten aussprechen: Ihr Land spielt in der EU traditionell eine ambivalente Rolle. In vielen Bereichen engagiert sich das kleine Großherzogtum im Herzen Europas in der Tat für den Fortschritt der EU. Die europäische Integration ist Teil der Luxemburger Staatsräson und taugt auch im politischen Diskurs kaum zur Kontroverse. Das heißt jedoch nicht, dass Luxemburg auf EU-Ebene keine eigene Agenda verfolgen würde.

Denn mit der Steuerpolitik entzieht sich ein wichtiges Politikfeld der parteiübergreifenden Europafreundlichkeit – und auch weitgehend der öffentlichen Debatte. Hinter den Kulissen verteidigen Luxemburgs Regierungen ebenso diskret wie konsequent – und dank des Vetos in EU-Steuerfragen oft genug erfolgreich – ihre nationalen Interessen. Oder wie es der ehemalige Außenminister Jean Asselborn einmal im Interview mit Reporter.lu ausdrückte: „Wir sind keine heiligen Messdiener. Wir haben auch unsere Hintergedanken.“


You can unsubscribe at anytime *


Subscribe


Kein Wunder also, dass in den Augen mancher Partner das schlechte Image der „Steueroase“ immer noch nachwirkt. Dabei hat sich das kleine Land mit dem übergroßen Finanzplatz doch wesentlich gewandelt – wenn auch nicht unbedingt aus Überzeugung. Vielmehr musste Luxemburg auf internationalen Druck hin (nicht zuletzt von seinen mächtigen Nachbarn Deutschland und Frankreich) gewisse Praktiken zur „aggressiven Steuervermeidung“, wie sie die EU-Kommission bis heute nennt, anpassen. 

Zum radikalen Umdenken kam es jedoch nie. Die wirtschaftliche Dynamik des Landes bleibt hochgradig abhängig von der massiven Attraktion von ausländischem Kapital. Die Investmentfondsbranche floriert und verwaltet hier mittlerweile nach den USA weltweit das zweitgrößte Anlagevermögen. 

Der mit Steuerdumping geförderte Tank- und Tabaktourismus spült weitere Milliarden in die Staatskasse. Die berüchtigten Briefkastenfirmen mit überschaubarer ökonomischer Substanz werden weiterhin politisch toleriert. Oder wiederum mit den Worten von Jean Asselborn: „Als kleines Land haben wir keinen Platz für so viele Häuser, deshalb haben wir so viele Briefkästen.“


Der 650.000-Einwohner-Staat boxt in dieser Hinsicht traditionell weit über seiner Gewichtsklasse


Anders als durch die kreative Nutzung von Steuernischen ist der Fakt, dass Luxemburgs BIP pro Kopf mit rund 120.000 Euro mehr als dreimal so hoch ist wie der EU-Durchschnitt, auch kaum zu erklären. Hinzu kommt der unverzichtbare Beitrag, den Arbeitskräfte aus anderen EU-Staaten leisten: Fast die Hälfte der Einwohner sind Nicht-Luxemburger und über 200.000 Grenzgänger arbeiten hier und tragen so maßgeblich zu Wachstum und Wohlstand bei. Die durch diese Politik abgeworfene Rendite erlaubt es den Regierenden, eine hohe Investitionsquote, den Sozialstaat und nicht zuletzt die stetig steigenden Beamtengehälter zu finanzieren. 

Mit einer kritischen Debatte über Luxemburgs Rolle in der EU ist in diesem Wahlkampf jedoch nicht zu rechnen. Die Europawahlen dienen wie so oft eher als Popularitätstest für die Regierung. Erst im Oktober wurde die seit 2013 regierende Koalition aus Liberalen, Sozialisten und Grünen abgewählt. An ihre Stelle trat eine konservativ-liberale Regierung unter Führung des früheren Finanzministers Luc Frieden (CSV/EVP). 

Der neue Premier verkörpert wie kein Anderer Luxemburgs doppelzüngige Europapolitik. Gemeinsam mit Jean-Claude Juncker war er von 1998 bis 2013 maßgeblich verantwortlich für eine Standortpolitik in der rechtlich-moralischen Grauzone. Noch kürzlich verteidigte Frieden die durch den „Luxleaks“-Skandal 2014 enthüllte Praxis von Konzernen, die via Luxemburg (und andere „Offshore“-Finanzplätze) ihre Steuerlast mitunter fast auf null senkten. Diese Praxis habe schließlich – Zitat – „zum Wohlstand des Landes beigetragen“. 

Zuhause inszeniert sich Frieden als wirtschaftsfreundlicher Macher, der trotz steigender Defizite und Staatsschulden die Steuern für alle senken will. Dabei zeigen die horrenden Immobilienpreise und das wachsende Armutsrisiko im Land längst, dass Luxemburgs Erfolgsmodell auch seine Kehrseite hat. Auf internationalem Parkett hatte der Premier einen durchwachsenen Start. Politico nannte ihn etwa den „Orban-Flüsterer“, nachdem Frieden mehr „Verständnis“ für die ungarische Position auf EU-Ebene forderte. Die Kontroverse ist bezeichnend für die ideologische Verortung der neuen Luxemburger Regierung. Sie veranschaulicht aber auch die Haltung des selbsternannten „Brückenbauers“, der sogar jenen die Hand ausstreckt, die nahezu alle Brücken hinter sich abgebrochen haben. 

Hinter verschlossenen Türen agiert die Regierung weitaus geschickter und erfolgreicher. Das zeigt auch die Häufigkeit, mit der Luxemburger Politiker EU-Spitzenämter ergattern. Der 650.000-Einwohner-Staat boxt in dieser Hinsicht traditionell weit über seiner Gewichtsklasse. Ganze drei der 13 bisherigen Kommissionspräsidenten waren Luxemburger Ex-Premiers. Mit Nicolas Schmit, dem EU-Kommissar und Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten, strebt dieses Jahr übrigens ein weiterer Landsmann diesen Posten an.

Luxemburgs Strategie zielt am Ende jedoch nicht auf Posten, sondern auf die nüchterne Verfolgung wirtschaftlicher Interessen ab. Auch andere Staaten versuchen freilich, die EU für ihre Zwecke zu nutzen. 

Doch kaum einem anderen Land gelingt der andauernde Balanceakt, die Quellen des eigenen Wohlstands so zielstrebig zu schützen, ohne damit allzu offensichtliche Zweifel an seinem Einsatz für das europäische Projekt zu erwecken. Darin liegt die wahre Kunst Luxemburger Europapolitik, die auch den Ausgang dieser Wahlen überdauern dürfte.

Dieser Artikel ist Teil des Gemeinschaftsprojekts Voices of Europe 2024, an dem 27 Medien aus der ganzen EU beteiligt sind und das von Voxeurop koordiniert wird.

#MediaTypeTitleFileWidgets
1imageLuxembourg madalaine kay