Das permanente Streben nach einem sozialen Europa
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Die Amtszeit der Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyen war für die europäische Integration eine außergewöhnliche Phase, denn sie hat die sozialen Grundlagen der EU in vielerlei Hinsicht gestärkt. Am deutlichsten zeigt sich diese Entwicklung zweifellos bei der Umsetzung der Europäischen Säule Sozialer Rechte (EPSR), die 2017 einstimmig unterstützt wurde und den Weg für gesetzgeberische und politische Maßnahmen freimachte. Dadurch wurden wichtige Gesetzesvorhaben umgesetzt, wie zum Beispiel die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU, die Richtlinie über geschlechtsspezifische Lohntransparenz und die Richtlinie über Plattformarbeit.
Zudem wurden wichtige Verbesserungen für Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmenden am Arbeitsplatz, die Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit und die Verordnung über Zwangsarbeit eingeführt. Die sozialen Bestrebungen der EU zeigten sich in gewissem Maße auch beim Umgang mit unerwarteten Ereignissen wie der Coronapandemie.
Sie führten nicht nur zur Einführung des Programms NextGenerationEU (mit dem Aufbau- und Resilienzfonds als Kernelement) und des SURE-Mechanismus, sondern auch zur vorübergehenden Lockerung des haushaltspolitischen Rahmens und der Vorschriften über staatliche Beihilfen. Gleichzeitig wurde vor dem Hintergrund der stetigen Bedrohung durch den Klimawandel im Europäischen Green Deal anerkannt, dass der Wandel „für alle gerecht und inklusiv“ gestaltet werden muss. Allerdings drängt die Gewerkschaftsbewegung auf eine Gesetzgebungsinitative, die diese Verpflichtung in die Tat umsetzt. Diese neuen sozialen Bestrebungen bilden einen deutlichen Kontrast zu den von Sparmaßnahmen dominierten Reaktionen auf die große Rezession, unter der die Bürger:innen der EU in den vergangenen zehn Jahren zu leiden hatten.
Prioritäten im Wandel: Die makroökonomische Politik der EU
Jeder dieser treibenden Faktoren – die soziale Säule, das neue Konzept im EU-Haushalt, die vorübergehende Lockerung des Haushaltsrahmens und die Verpflichtung des Europäischen Green Deal auf einen gerechten Übergang – war bei der Wiederaufnahme des Prozesses für eine sozialere Integration Europas wichtig.
Die (Neu-) Gewichtung der Prioritäten ist der rote Faden: Während in den ersten Jahren dieser EU-Legislaturperiode die Stärkung der sozialen Resilienz und des Zusammenhalts sowie der gerechte grüne Übergang im Vordergrund standen, verschob sich der Fokus in den letzten Jahren auf Herausforderungen wie die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung. Im Gegensatz zu den Ereignissen nach der Finanzkrise 2008 setzten die haushaltspolitischen Fördermaßnahmen nach der Coronapandemie nicht nur die Anwendung der Haushaltsregeln vorübergehend aus, sondern wurden auch durch geldpolitische Maßnahmen, die Lockerung von Regeln zu staatlichen Beihilfen und die Schuldenaufnahme der EU zur Finanzierung einer ambitionierten Aufbaustrategie für die EU unterstützt.
Die EU hat ihre Bemühungen um das Erreichen der Klimaneutralität bis 2050 verstärkt und versprochen, „niemanden zurückzulassen“. Der Krieg in der Ukraine führte jedoch zu einem Energiepreisschock, einem sprunghaften Anstieg der Inflation und einer Krise bei den Lebenshaltungskosten. Daher wurde die makroökonomische Expansion ab 2022 trotz der Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Energieversorgung teilweise rückgängig gemacht. Noch bedrohlicher ist die Tatsache, dass die neu vereinbarten Regeln für eine multilaterale Überwachung der Haushalte darauf hindeuten, dass die Mitgliedstaaten zugunsten der haushaltspolitischen Nachhaltigkeit einen Rückzieher machen und den Ländern bei gemeinsamen Prioritäten der EU wie dem Klimawandel und der sozialen Resilienz mehr Spielraum lassen.
Es hat den Anschein, als werde bei der Überprüfung der EU-Finanzvorschriften die Chance verpasst, ein sinnvolleres Gleichgewicht zwischen haushaltspolitischen, grünen und sozialen Zielen zu erreichen. Stattdessen steigt das Risiko einer Rückkehr zur Sparpolitik. Deshalb ruft der Europäische Gewerkschaftsbund die Mitgliedstaaten auf, die Anforderungen stattdessen durch eine progressive Besteuerung zu erfüllen. Zudem sollte die EU einen dauerhaften Investitionsmechanismus einführen um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten weiterhin über Kapazitäten zur Erreichung sozialer und grüner Ziele verfügen.
Die Bemühungen um eine deutliche Erholung am Arbeitsmarkt
Vor dem Hintergrund des anhaltenden Strukturwandels am Arbeitsmarkt mit neuen Technologien, dem grünen Übergang und der schnell alternden arbeitenden Bevölkerung erreichen die Beschäftigtenzahlen in Europa Höchststände. Dabei zeigt sich: Der Ansatz, Arbeitsplätze und Arbeitnehmende während der Coronapandemie durch notwendige Ausgaben zu unterstützen, war erfolgreich. Mit der Zeit sind die Unterschiede zwischen Ländern und Regionen in der EU zurückgegangen. Gleichzeitig bleibt die Qualität der Arbeit ein Problem. Viele Arbeitnehmende in vielen Ländern und Wirtschaftszweigen haben noch immer problematische Arbeitsverträge und prekäre Arbeitsverhältnisse unter schlechten Bedingungen mit niedrigen Löhnen und geringer Tarifbindung. Vor allem bestehen in vielen Jobs noch immer Gesundheitsrisiken für Arbeitnehmende, und das Bewusstsein für die Bedeutung psychosozialer Risiken im Zusammenhang mit der Arbeit steigt.
Die Qualität der Arbeit muss gründlich überwacht und es müssen Maßnahmen ergriffen werden, die sicherstellen, dass Veränderungen am Arbeitsmarkt menschenwürdige Arbeitsmöglichkeiten für alle bieten. Die vor Kurzem beschlossene Plattformrichtlinie enthält zentrale Forderungen der Gewerkschaften zur Vermutung eines Arbeitsverhältnisses und der Beweislastumkehr. Sie zeigt, dass die EU wirksam für Mindestlöhne, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und andere Schutzmaßnahmen für schutzbedürftige Arbeitnehmende sorgen und ausbeuterische Praktiken beenden kann.
Angemessene Mindestlöhne: Eine bahnbrechende Entwicklung
Bei Löhnen und Tarifverhandlungen hat die angespannte Lage am Arbeitsmarkt mit niedriger Arbeitslosigkeit und anhaltend hohem Arbeitskräftemangel die Verhandlungsposition der Gewerkschaften gestärkt, um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmenden zu erreichen. Andererseits machten das bescheidene Wirtschaftswachstum und die anhaltenden geopolitischen Spannungen es ihnen schwerer, Lohnsteigerungen zum Ausgleich des Kaufkraftverlusts auszuhandeln. Die Verabschiedung der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne im Oktober 2022 war ein Wendepunkt. Zum ersten Mal überhaupt hat eine EU-Gesetzgebung das Ziel, eine angemessene Untergrenze für Mindestlöhne und die Stärkung von Tarifverhandlungen festzulegen.
Europa erlebt einen Notstand der sozialen Gerechtigkeit. Hochwertige Arbeitsplätze, sozialer Fortschritt, die Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen, der gesellschaftliche Dialog und Tarifverhandlungen stehen im Mittelpunkt des europäischen Sozialmodells
Aber nicht nur das: In dieser Richtlinie zeigt sich auch besonders deutlich, wie sich der soziale Diskurs in der EU verschoben hat, der bisher vom neoliberalen Leitbild der Marktliberalisierung und dem dadurch entstehenden Druck auf bestehende Wirtschaftsbeziehungen und Sozialsysteme dominiert wurde. Die positiven Auswirkungen auf die Entwicklung der Mindestlöhne ist in mehreren Ländern bereits vor der bis November 2024 fälligen formellen Umsetzung in nationales Recht sichtbar. Ob die Richtlinie tatsächlich „Biss“ hat, hängt aber auch von der wirksamen Umsetzung der Mitgliedstaaten ab. Sie ist in einigen Ländern eventuell hart umkämpft und wird eine Mobilisierung der Gewerkschaften erfordern.
Auf dem Weg zu einem öko-sozialen Modell
Die Politiker:innen der EU haben sich in den vergangenen fünf Jahren offener und einfühlsamer gezeigt und so eine hilfreiche Basis für die Bewältigung der sozialen Folgen des Klimawandels und des grünen Übergangs geschaffen. Aber trotz all der positiven Aussagen und guten Absichten ist der aktuelle Flickenteppich an Vorschriften – der Mechanismus für einen gerechten Übergang, der Klima-Sozialfonds und die umgewidmete Aufbau- und Resilienzfazilität – weit von dem ganzheitlichen und umfassenden Ansatz entfernt, der das Grundprinzip der Politik des gerechten Übergangs sein sollte.
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Der EU fehlt (noch) das politische Rüstzeug, das eine gemeinschaftliche Risikodeckung für Extremrisiken durch den Klimawandel und extreme Wetterereignisse bietet. Zudem ist eine Richtlinie für den gerechten Übergang erforderlich, die den Wandel auf der Grundlage eines gesellschaftlichen Dialogs und von Tarifverhandlungen vorwegnimmt und managt. Außerdem fehlen Maßnahmen auf EU-Ebene, die das Recht auf kostenfreie Weiterbildung während der Arbeitszeit für alle Arbeitnehmenden sicherstellen. Ein Großteil des Wandels steht uns noch bevor: Die Anstrengungen zur Dekarbonisierung müssen in den kommenden Jahrzehnten deutlich gesteigert werden und die EU muss den grünen Übergang deutlich beschleunigen – nicht nur um die Klimaziele zu erreichen, sondern auch um die in der EU vorhandenen Kompetenzen in wichtigen Branchen zu erhalten. Ehrgeizige Ziele bedeuten aber auch mehr soziale Auswirkungen durch die Transformation. Daher brauchen wir eine Industriepolitik für hochwertige Jobs mit hohen öffentlichen und privaten Investitionen und sozialen Rahmenbedingungen, ebenso gesetzgeberische und politische Maßnahmen, die für einen gerechten Übergang sorgen.
Tarifverhandlungen am Scheideweg
Neben der Umsetzung der Mindestlohnrichtlinie (Ziel ist eine Tarifabdeckung von 80 %) und der Richtlinie über die Transparenz der Entlohnung von Frauen und Männern sind weitere Maßnahmen der EU-Institutionen zur Förderung von Tarifverhandlungen ein sehr wichtiges Ziel für die kommenden Jahre. Unter anderem müssen die EU-Vorschriften für das öffentliche Beschaffungswesen überarbeitet werden um sicherzustellen, dass das Geld der öffentlichen Hand an Organisationen geht, die die Rechte von Arbeitnehmenden und Gewerkschaften respektieren, die mit Gewerkschaften verhandeln und deren Beschäftigte durch Tarifverträge abgedeckt sind.
Angesichts der negativen Entwicklungen in manchen Ländern ist auch die Verteidigung und Stärkung der Gewerkschafts- und Arbeitnehmendenrechte, des allgemeinen Rechts, sich zu organisieren, des Zugangs der Gewerkschaften zu Arbeitsplätzen, des Rechts auf Tarifverhandlungen und des Streikrechts besonders wichtig. Ebenfalls sehr wichtig ist die Tatsache, dass die jüngste interinstitutionelle Erklärung von La Hulpe die Bedeutung dieser grundlegenden Arbeitnehmenden- und Gewerkschaftsrechte anerkannt hat.
Die jüngsten Fortschritte in der EU-Politik haben zudem die Information, Anhörung und Beteiligung von Arbeitnehmenden auf Unternehmensebene unterschiedlich und zum Teil uneindeutig beeinflusst. Wenn Europa inmitten des globalen Wettbewerbs und der sich überlagernden Krisen eine nachhaltige, innovative und demokratische Wirtschaft und Gesellschaft aufbauen will, sollten Arbeitnehmendenrechte ausgeweitet und gestärkt werden. Die wirksame Ausübung der Demokratie am Arbeitsplatz unter Beteiligung von Gewerkschaften und Arbeitnehmenden an der strategischen Entscheidungsfindung unterstützt den Schutz der Rechte am Arbeitsplatz, von hochwertigen Arbeitsplätzen und guten Arbeitsbedingungen. Dadurch sichert sie die Nachhaltigkeit von Unternehmen und stärkt die demokratische Gesellschaft an der Basis. In diesem Sinne ist die laufende Diskussion zur Überarbeitung der Richtlinie über den Europäischen Betriebsrat eine erste wichtige Gelegenheit, die Rechte von Arbeitnehmenden auf Unterrichtung und Anhörung zu stärken. Diese Gelegenheit dürfen wir nicht verpassen. Die Stärkung der Informations-, Konsultations- und Mitwirkungsrechte von Arbeitnehmendenvertretungen und Gewerkschaften in ganz Europa sollte weiterhin höchste Priorität haben.
Europa erlebt einen Notstand der sozialen Gerechtigkeit. Hochwertige Arbeitsplätze, sozialer Fortschritt, die Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen, der gesellschaftliche Dialog und Tarifverhandlungen stehen im Mittelpunkt des europäischen Sozialmodells. Die Stärkung dieser wichtigen Säulen und die vollumfängliche Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte muss bei der Arbeit der EU-Institutionen in der nächsten Legislaturperiode im Vordergrund stehen, ebenso die Erklärung von La Hulpe zur deren Zukunft.
Ausführliche Informationen zu diesen Themen liefert die Publikation Benchmarking Working Europe 2024: The ongoing quest for Social EuropeHerausgeber: European Trade Union Institute (ETUI).
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