REPCO

Replication & Collector

Hans Kundnani: „Ein starkes Europa muss keine große Zivilisation sein“

UID: eayt3z6bywytarba3gi5n4tisle
Revision: vayt3z6bzp64qrmkiec6sfkjuw4

Hans Kundnani ist Associate Fellow im Europa-Programm des Royal Institute of International Affairs (Chatham House) in London und Gastwissenschaftler am Remarque Institute der New York University. Er ist der Autor von „Utopia or Auschwitz. Germany’s 1968 Generation and the Holocaust“, „The Paradox of German Power“ und „Eurowhiteness. Culture, Empire and Race in the European Project“.

Green European Journal: In Ihrem Buch „Eurowhiteness“ sprechen Sie über die zivilisatorische Wende Europas. Was meinen Sie damit? Wann hat sie begonnen, und wann wurde sie offensichtlich?

Hans Kundnani: Wann sie begann, ist nicht ganz klar. Vielleicht ist sie noch nicht einmal jetzt erkennbar, zumindest für viele Menschen. Ich begann etwa in den Jahren 2020/2021, über die zivilisatorische Wende nachzudenken. Aber im Rückblick war die Geflüchtetenkrise im Jahr 2015 der kritische Punkt. In den zwei Jahrzehnten zwischen dem Ende des Kalten Krieges und 2010 befand sich die EU in einem expansiven, offensiven Modus. Sie war optimistisch und nach außen gerichtet und stellte sich eine Welt vor, die fast nach ihrem eigenen Bild gestaltet werden konnte.

Am besten beschreibt das der Titel eines Buches von Mark Leonard vom European Council on Foreign Relations, Why Europe Will Run the 21st Century. Die Krise der Eurozone, der Arabische Frühling im Jahr 2011 und die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 beendeten diese selbstsichere, optimistische Phase. Europa beginnt, sich in der Defensive zu sehen.

Der Wandel ist also bereits in der ersten Hälfte der 2010er Jahre zu beobachten, aber mit der Geflüchtetenkrise im Jahr 2015 nimmt diese Defensivhaltung eine andere Form an. Die EU sieht sich nicht nur von Bedrohungen umgeben, sondern nimmt diese Bedrohungen nach 2015 auch in zivilisatorischer Hinsicht wahr.

Das ist die zivilisatorische Wende, bei der Bedrohungen nicht mehr ideologisch, geopolitisch oder realistisch gesehen werden, sondern im Kontext eines „Kampfes der Kulturen“, wie Huntington ihn beschreibt (wo Konflikte zwischen zivilisatorischen Blöcken stattfinden, die durch eine Kultur vereint sind)– als Bedrohung einer europäischen Zivilisation, die es zu schützen gilt.


You can unsubscribe at anytime *


Subscribe


In Ihrem Buch wird argumentiert, dass dieser Wende das Phänomen „Eurowhiteness“ zugrunde liegt. Was ist das, und woher stammt der Begriff?

Ich leihe mir diesen Begriff von József Böröcz, einem Soziologen. Er verwendet den Begriff in einer ganz bestimmten Weise, um die interne Hierarchie innerhalb der, wie er es nennt, „Struktur des Weißseins“ zu diskutieren. Er unterscheidet, grob gesagt, zwischen Menschen aus Westeuropa, solchen aus Mittel- und Osteuropa und Menschen aus Südeuropa, die den Wunsch haben, ganz weiß zu werden. Ich verwende den Begriff auf eine etwas andere Weise.

Für mich ist Eurowhiteness eine ethnisch-kulturelle Idee von Europa. Mein Argument lautet, dass es sowohl ethnisch-kulturelle als auch bürgerliche Strömungen von Ideen über Europa gibt, die zumindest bis zur Aufklärung zurückreichen. Insbesondere spreche ich von „Eurowhiteness“, um anzudeuten, dass Europa und Weißsein etwas miteinander zu tun haben, was irgendwie offensichtlich ist, wenn man darüber nachdenkt, auch wenn es etwas ist, worüber die Leute nicht sprechen wollen. Die Idee einer europäischen Nachkriegsidentität, die sich auf die EU konzentriert, ist eine, von der viele Pro-Europäer*innen glauben wollen, dass sie nichts mit Weißsein zu tun hat. Ich behaupte jedoch, dass die ethnisch-kulturelle Version der europäischen Identität nach dem Zweiten Weltkrieg fortbestanden hat und die europäische Integration selbst beeinflusst und geprägt hat.

In welchen Bereichen der heutigen EU-Politik sehen Sie die zivilisatorische Wende?

Sie ist vor allem in der Migrationspolitik sichtbar. Seit 2015 baut Europa faktisch eine Mauer im Mittelmeer. Mit anderen Worten ist das nicht viel anders als die Politik, die Trump während seiner Amtszeit als US-Präsident verfolgte, nur dass es sich hier nicht um eine Landgrenze zu Mexiko, sondern um eine Seegrenze zu Nordafrika handelt. Laut Human Rights Watch lässt sich die EU-Migrationspolitik in drei Wörtern zusammenfassen: „Lasst sie sterben“. Seit 2014 sind fast 30.000 Menschen im Mittelmeer verschwunden oder ums Leben gekommen. Im Jahr 2023 waren es mehr als 3000. Das Mittelmeer ist die tödlichste Grenze der Welt.

Seit Ursula von der Leyen 2019 Präsidentin der Europäischen Kommission wurde, gibt es einen EU-Kommissar für die „Förderung unserer europäischen Lebensweise“. Ursprünglich lautete die Bezeichnung „Schutz unserer europäischen Lebensweise“. Es gab einen dummen Streit im Europäischen Parlament über dieses Wort, aber das eigentliche Problem ist nicht das Wort, sondern die Formulierung „unsere europäische Lebensweise“. Die Aufgabe des Kommissars für die Förderung unserer europäischen Lebensweise besteht zumindest teilweise darin, Migrierende fernzuhalten. Er macht sehr deutlich, dass die Migration nicht nur ein schwer zu bewältigendes politisches Problem, sondern eine Bedrohung für die europäische Lebensweise ist.

Diese Sprache der Zivilisation schleicht sich auch in die europäische Außenpolitik ein. Die extreme Rechte neigt dazu, über die Bedrohung der europäischen Zivilisation durch die Migration zu schwadronieren, aber die rechte Mitte benutzt zunehmend die gleiche Sprache, um die europäische Außenpolitik zu diskutieren. In all den Debatten über europäische Souveränität, strategische Autonomie und ein geopolitisches Europa gibt es ein echtes Gefühl dafür, dass Europa sich gegen Bedrohungen verteidigen muss, die als zivilisatorisch wahrgenommen werden. [...] Meine Befürchtung ist, dass die extreme Rechte und die zentristischen Parteien zunehmend auf dieselbe Weise denken.

Rassendiskussionen führen unweigerlich zum Kolonialismus zurück. In den unmittelbaren Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Gründungsmitglieder der EU allesamt weiße europäische Reiche, die sich zusammenschlossen, als sie ihre Kolonien verloren. Warum wird der post-imperiale Teil der Entstehungsgeschichte der EU oft vergessen?

Darauf gibt es eine einfühlsame und eine eher zynische Antwort. Lassen Sie mich mit der zynischen Antwort beginnen. Die EU hat sich selbst mythologisiert, zum Teil als bewusste Strategie der sogenannten „Regionsbildung“, die der Nationsbildung des 19. Jahrhunderts entspricht. Der Mythos ist in der Regel eine beruhigende, positive Geschichte über die eigene Geschichte, die einige Realitäten ignoriert. Nachdem die Kolonialgeschichte von Frankreich oder den Niederlanden zu Ende gegangen war, wurde sie in ein „Erinnerungsloch“ verbannt, wie der Historiker Tony Judt es ausdrückt. Die Länder machten sozusagen weiter und versuchten, eine schmerzhafte, schwierige Geschichte der Demütigung zu vergessen. Sie wollten den Kolonialismus einfach hinter sich lassen.

Aber ich habe eine etwas andere und weniger zynische Interpretation, warum er in Vergessenheit gerät. Seit den 1960er Jahren wurde der Holocaust zu einer zentralen kollektiven Erinnerung innerhalb der EU und für Pro-Europäer*innen. Tony Judt schreibt, die Anerkennung des Holocaust sei „unsere zeitgenössische Eintrittskarte für Europa“. Die Diskrepanz zwischen der Erinnerung an den Holocaust und dem Vergessen des Kolonialismus ist auffallend, und ich würde behaupten, dass diese Diskrepanz eine strukturelle Dimension hat.

Der Holocaust und der Zweite Weltkrieg passen sehr gut in das Narrativ von der EU als Friedensprojekt. Dies ist eine Geschichte, die die Befürworter*innen Europas über die Errungenschaften der EU erzählen, vom Schuman-Plan bis zur Überwindung des jahrhundertelangen Konflikts zwischen Frankreich und Deutschland, der im Zweiten Weltkrieg gipfelte. Dieses Narrativ regt die Europäer*innen dazu an, ihre Geschichte fast ausschließlich im Verhältnis zueinander zu betrachten. Es ist die Geschichte Europas als eine interne Geschichte der Interaktion der europäischen Länder untereinander, in der der Rest der Welt völlig vergessen wird. Die externen Lektionen der europäischen Geschichte, was die Europäer*innen dem Rest der Welt angetan haben, aber auch umgekehrt der Einfluss, den der Rest der Welt auf Europa hatte, insbesondere Afrika und der Nahe Osten, werden ausgelöscht.

Die europäische Geschichte als ein geschlossenes System zu betrachten, bringt die Europäer*innen zusammen. Es erlaubt ihnen, sich als „Schicksalsgemeinschaft“ zu sehen. Aber wenn man die Geschichte des europäischen Kolonialismus ins Spiel bringt, hat das fast den gegenteiligen Effekt. Das beginnt, die Europäer*innen zu spalten. Frankreich muss zum Beispiel an seine Geschichte in Algerien, West- und Zentralafrika und Indochina [das heutige Kambodscha, Laos und Vietnam] denken. Wenn man anfängt, seine Geschichte als Teil einer anderen Schicksalsgemeinschaft zu betrachten, nämlich der seiner ehemaligen Kolonien, hat man eine Verantwortung ihnen gegenüber. [...] Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kolonialismus ermutigt die Europäer*innen, in alternativen Schicksalsgemeinschaften zu denken.

Glauben Sie, dass die Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine auch in zivilisatorischer Hinsicht erfolgt ist?

Ich denke, es ist relativ klar, dass die Reaktion auf den Krieg auf eine ziemlich zivilisatorische Art und Weise erfolgte. Der Kontrast zwischen dem Umgang mit Ukrainischen Geflüchteten und Geflüchteten aus anderen Teilen der Welt ist sehr auffällig. Zu Beginn des Krieges sagte von der Leyen: „Die Ukraine gehört zu uns“. Das würde man nie über Algerien, Marokko oder Syrien sagen. Ich denke auch, dass Russland als ein zivilisatorisches „Anderes“ konstruiert wird, gegen das sich Europa abgrenzt, und diese Idee hat eine lange Geschichte.

Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, den Krieg zu betrachten: auf realistische oder sogar ideologische, neokonservative Weise – das heißt als Teil eines globalen Kampfes zwischen Demokratie und Autoritarismus.

Ist es möglich, die Unterstützung, beispielsweise der europäischen Souveränität, von ausgrenzenden Diskursen zu trennen? Kann man nicht europäische strategische Autonomie und vielleicht sogar eine europäische Armee unterstützen, ohne in die Verteidigung rassistischer Grenzpolitik abzugleiten?

Es gibt mindestens zwei alternative Denkweisen über ein geopolitisches Europa, und vielleicht auch noch andere. Die erste ist sehr realistisch. In einer Welt, in der Großmächte miteinander konkurrieren, muss Europa neben China, den Vereinigten Staaten, Russland und so weiter auch eine kontinentale Großmacht sein. Es mag den Befürworterinnen und Befürwortern Europas schwerfallen, so zu denken, weil es von ihnen verlangt, den hohen moralischen Anspruch, sozusagen die pro-europäische moralische Überlegenheit, aufzugeben. Aber an dieser realistischen Sichtweise ist nichts auszusetzen.

Es gibt auch einen ideologischen Rahmen, der frei von ethnischen, religiösen oder zivilisatorischen Konnotationen ist: Ein Streit über den globalen Kampf zwischen Autoritarismus und Demokratie. Diese Sichtweise wird besonders von denjenigen, die einen harten Kurs verfolgen, in Großbritannien und den USA vertreten. Ich bin mit dieser Lesart nicht einverstanden, aber zumindest ist sie frei von dem zivilisatorischen Element. Ein starkes Europa mit einer kohärenten, effektiven europäischen Außenpolitik muss keine große Zivilisation sein.

👉 Vollständigen Artikel auf Green European Journal lesen
#MediaTypeTitleFileWidgets
1imageHans-Kundnani
2imagedel rosso kundnani voxeurop