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„Die Rechtsextremen von heute sind aus der Krise des liberalen Kapitalismus hervorgegangen.“

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Fernando Rosas hat gegen die Diktatur in Portugal gekämpft und das Thema Diktatur im Allgemeinen steht im Zentrum seiner Recherchen. Schon in jungen Jahren engagierte er sich gegen das Salazar-Regime (bis er inhaftiert wurde) und ist heute einer der führenden portugiesischen Historiker auf diesem Gebiet. Als überzeugter Linker war er Mitglied der Kommunistischen Partei Portugals (PCP) und an der Gründung zweier weiterer Parteien beteiligt: der Kommunistischen Partei der portugiesischen Arbeiter (PCTP-MRPP) in den 1970er-Jahren und des Linksblocks (BE) im Jahr 1999, dem er bis heute angehört. Für den BE wurde er mehrmals zum Abgeordneten gewählt und kandidierte 2001 sogar für das Amt des Staatspräsidenten.

Der heute 77-Jährige ist emeritierter Professor an der Universidade Nova de Lisboa, wo er das Institut für Zeitgeschichte (IHC) gründete und leitete. Als Historiker hat er Bücher über die Erste Portugiesische Republik, die Diktatur und die Nelkenrevolution geschrieben. Mehrere davon wurden auch in Spanien, Frankreich, Italien, Deutschland und Brasilien veröffentlicht. Die zum 50. Jahrestag der Revolution erschienenen April-Essays (Ensaios de Abril, Tinta da China, 2023, nicht ins Deutsche übersetzt) sind ein autobiografisches Zeugnis, das durch ältere Texte über die portugiesische Diktatur ergänzt wurde.

Während Portugal in diesem Jahr ein halbes Jahrhundert Demokratie feiert, erleben wir ein exponentielles Wachstum der extremen Rechten. Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür?

Ich denke, man sollte sich von der Vorstellung verabschieden, dass Faschismus eine Art seltsame Krankheit oder ein unvermeidlicher Fluch ist, der vom Himmel gefallen ist, so wie es bezüglich der 1930er-Jahre immer dargestellt wird. Er wurde zu einem Fluch gemacht, dessen Ursprung in der Unzurechnungsfähigkeit des Volkes oder bestimmter Führer lag, aber das stimmt nicht. Wie der damalige Faschismus ist auch die heutige extreme Rechte aus der Krise der westlichen liberalen Systeme hervorgegangen. Mit anderen Worten: aus der Krise des liberalen Kapitalismus.


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Wir erleben derzeit die zweite historische Krise der westlichen liberalen Systeme. Die neoliberale Wende des Kapitalismus seit den 1980er-Jahren hat die Probleme der Menschen nicht bewältigt. Sie hat zu Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Kapitalkonzentration und Insolvenzen geführt. Sie hat eine Welle der wirtschaftlichen und sozialen Zerstörung ausgelöst, die Verzweiflung, Wut und Angst hervorgerufen hat. Historisch gesehen ist dies die soziale Basis sowohl für den vergangenen Faschismus als auch die extreme Rechte von heute. 

Diese soziale Basis von Faschismus und Rechtsextremismus ist auch darin verankert, dass so reflexhafte - aber verständliche - Gefühle wie die Angst vor dem Verlust des sozialen Status, des Arbeitsplatzes oder die Angst vor einer ungewissen Zukunft ausgenutzt werden. Diese Manipulation ermöglicht es den aggressivsten Sektoren des Finanzkapitalismus, eine stabile neoliberale Diktatur zu errichten und dabei jeglichen Widerstand zu verhindern. Diese Gelegenheit hat sich seit den 1980er-Jahren geboten, durch die Krise des Marxismus, die Implosion der Sowjetunion und durch das Ungleichgewicht im politischen Kräfteverhältnis zu Ungunsten der traditionellen Linken.

Aus dem Zusammenspiel all dieser Faktoren ist eine Offensive entstanden, die einen Teil der traditionellen Rechten mit der radikalisierten neuen Rechten vereint.

Ihre soziale Basis sind in erster Linie die Reichen. In Portugal sind sie es, die die rechtsextreme Chega-Partei (CH) finanzieren: die großen Bankiers, die Immobilieninvestoren, diejenigen, die durch Spekulation und Tourismus reich geworden sind. Diese Sektoren profitieren exponentiell von der spekulativen Logik des Kapitals, die das Substrat des neoliberalen Kapitalismus selbst ist. Dazu kommen bestimmte Gruppen aus der Mittelklasse: kleine und mittlere Landbesitzer, Beamte, Krankenschwestern, Polizisten. Kurz gesagt, Menschen aus der Arbeiter- und Mittelklasse, die von der sozialen Ungerechtigkeit hart getroffen werden und leicht manipulierbar sind.


Diese Gelegenheit hat sich seit den 1980er-Jahren geboten, durch die Krise des Marxismus, die Implosion der Sowjetunion und durch das Ungleichgewicht im politischen Kräfteverhältnis zu Ungunsten der traditionellen Linken


Aber Achtung! Die extreme Rechte wird nicht nur von einer, sondern von drei Wählergruppen unterstützt. Da ist zunächst die der Oligarchen, welche die Chega-Partei finanzieren. Die großen Familien, Bankiers und Immobilieninvestoren, deren Fonds oft mit der Tourismusindustrie verbunden sind. Sie essen gemeinsam zu Abend, zu Mittag ... und das in aller Öffentlichkeit. Diese Allianz aus Oligarchen und bestimmten Teilen der Mittelschicht hat sich nach rechts radikalisiert.

Dann gibt es noch die Stimmen der Nostalgiker des Ancien Régime, des Salazarismus, die in der Führungsriege der Chega-Partei vertreten sind. Sie sind offen gegen die Revolution vom 25. April 1974. In ihren Reden sagen sie immer, dass es dem Land seit 50 Jahren schlecht geht. Im Grunde ist es die Demokratie, die ihnen nicht passt. Sie trauern der Salazar-Diktatur, dem Faschismus, dem Kolonialismus und dem Kolonialkrieg hinterher. 

Und dann gibt es noch das, was ich die blinde Wahl des uninformierten Protests nenne, die von Natur aus eine emotionale und irrationale Wahl ist.

Aber sind dort nicht die meisten Menschen zu finden, die für die extreme Rechte stimmen? Und erklärt das vielleicht auch das Profil dieser Wählerschaft?

Natürlich bildet sie die soziale Basis. Die ersten beiden Wähler-Typen sind die Ideologen. Und dann gibt es eben diese irrationalen Protestwähler, denen die kritische Fähigkeit fehlt, die Widersprüche und Lügen des populistischen Diskurses von Chega und ihrem Führer, der dreimal an einem Tag seine Meinung ändert, zu analysieren. Es ist eine Stimme, die nicht nur irrational, sondern auch schlecht informiert ist. Es ist eine Stimme der Wut, eine Stimme der Angst.

Auch junge Menschen scheinen von dieser Partei geködert zu werden, insbesondere über die sozialen Netzwerke. Zählen Sie Jugendliche zu der Protestwählergruppe hinzu?

Ja, vor allem vor und bis zu ihrem 18. Lebensjahr, denn das Gros der Jugendlichen, die die Chega-Partei erfolgreich erreicht, ist noch auf dem Gymnasium. Nach dem Abitur sind sie weniger anfällig für die Rechtsextremen. Wenn sie rechts wählen, dann nicht Chega, sondern eher die Partei Liberale Initiative (IL, rechts) oder sie wählen linke Parteien wie den BE. Über 30 % der BE-Wähler sind Jugendliche. Ich war viel in Gymnasien, um über die Nelkenrevolution zu sprechen, und dabei ist mir klar geworden, dass die Wahl dieser Jugendlichen gar keine richtige Wahl ist. Es fällt mir daher schwer, sie als rechtsextreme Wähler zu bezeichnen.

Aber handelt es sich trotzdem um eine Protestwahl?

Es ist ganz klar eine Stimme des Protests, es ist die Stimme derer, die sagen „Ventura (André Ventura, Chega-Vorsitzender) hat Eier“, „Dieser Typ ist der Richtige für uns“, „Er spricht offen aus, was die Leute denken“, etc. Mit anderen Worten: Es ist eine Haltung, die völlig frei von rationaler Analyse ist. Es ist im Moment fast unmöglich, mit diesen Schülern eine Debatte zu führen - vor allem während eines Wahlkampfs -, weil sie dann überhaupt nicht mehr rational sind. Das bedeutet nicht, dass wir diese Arbeit aufgeben sollten. Ich bin durch die Schulen des Landes gereist, um über die Nelkenrevolution zu sprechen, und das ist immer sehr gut gelaufen. Denn eine Diskussion von Angesicht zu Angesicht zu führen, ist immer bereichernd, auch wenn es dabei gegensätzliche Positionen gibt.

Dieses Jahr ist auch das Jahr der Europawahlen. Würden Sie sagen, dass das europäische Projekt dabei ist zu scheitern?

Wenn das europäische Projekt überleben soll, muss es sich grundlegend reformieren. Denn was bedeutet das europäische Projekt konkret? Es hindert die nationalen Volkswirtschaften daran, ihre eigene Währungs- und Wechselkurspolitik zu betreiben. Der Euro ist ein System, das vor allem zum Vorteil der stärksten Volkswirtschaften, insbesondere der deutschen und französischen, funktioniert. Er benachteiligt die am stärksten marginalisierten Volkswirtschaften. Die Europäische Zahlungsunion geht in die gleiche Richtung. Es gibt keine Souveränität in Bezug auf spezifische Wirtschaftspolitiken, insbesondere im Bereich des Währungshandels. Alles ist einer Europäischen Zentralbank untergeordnet, die niemand gewählt hat und die niemand wirklich kontrolliert. Es sind Banker, die diesen Bereich verwalten.

Europas Einwanderungspolitik ist ebenfalls katastrophal, da sie auf den Bau einer großen Festung hinausläuft. Die europäischen Länder haben Marokko und die Türkei dafür bezahlt, dass sie die Flüchtlinge in Lagern unterbringen und sie daran hindern, das Land zu verlassen. Das ist völlig absurd.

Dabei wird Europa jetzt noch sicherer, wie man es in Frankreich gesehen hat...

[Das neue französische Einwanderungsgesetz] ist absolut beschämend, weil es französische Bürger diskriminiert, die nicht französischstämmig oder europäischer Abstammung sind. Im Wesentlichen hat Emmanuel Macron einen Text verabschiedet, der Marine Le Pen sehr entgegenkommt. In den Niederlanden hat die extreme Rechte die Wahlen gewonnen, indem sie sich für diese Art von Gesetzgebung stark gemacht hat. Dabei handelt es sich um eine Bürgerkriegsgesetzgebung. Was kann sie bewirken? Wenn Millionen von Menschen vor Dürre, Wassermangel, Unterentwicklung und Hunger fliehen? Wird es sie davon abhalten zu gehen? Nein. Nur Fortschritt, wirtschaftliche Entwicklung und ein mittel- und langfristiges Engagement für die Zusammenarbeit bei der Entwicklung dieser Länder sind eine tragfähige Lösung. Eine andere gibt es nicht.

Da Europa demografisch schrumpft und Einwanderer braucht, ist es an der Zeit, eine echte Integrationspolitik aufzubauen, die in jeder Hinsicht nützlich ist, auch für die europäische Wirtschaft.

Aus wirtschaftlicher und finanzieller Sicht ist es absolut notwendig, dass die Europäische Union Maßnahmen zur Regulierung der Kapitalbewegungen ergreift. Denn solange durch diese versucht wird, wild, ohne jegliche Regulierung mit den besten Investitionen zu spekulieren...

Der freie Kapitalverkehr ist das Merkmal des neoliberalen Kapitalismus, der sich seit den 1980er-Jahren entwickelt hat. Der neukeynesianische Kapitalismus der Nachkriegszeit hat das Kapital noch reguliert, und zwar mit großem Erfolg in Bezug auf das Wirtschaftsmodell. Solange also einige der aggressivsten neoliberalen Politiken im Wirtschafts- und Finanzbereich, in der Einwanderungspolitik und sogar in der Außenpolitik nicht umgekehrt werden, wird die Tendenz der Europäischen Union auf ein Auseinanderbrechen hinauslaufen, wie wir es derzeit mit dem Krieg in der Ukraine erleben. In diesem Krieg ist die Europäische Union nicht in der Lage, eine eigene politische Linie zu verfolgen.

👉 Original und vollständiger Artikel auf Gerador.
Dieser Artikel wurde im Rahmen des kollaborativen Projekts Come Together veröffentlicht.

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1imageFernando-Rosas
2imageThiago Lucas farright voxeurop