Kelly Greenhill: „Der Einsatz von Migration als Waffe ist in den letzten Jahren sehr viel deutlicher zu Tage getreten“
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Professorin Kelly M. Greenhill (Ph.D., MIT) ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet an der Tufts University und dem Massachusetts Institute of Technology. Außerdem ist sie Senior Fellow am Niskanen Center in Washington, DC. Ihr Buch Weapons of Mass Migration (Cornell University Press, 2016) hatte einen großen Einfluss auf dem Gebiet der Forschung über die Instrumentalisierung von Migration, zu deren führenden Persönlichkeiten Greenhill zählt. Derzeit ist sie in Zusammenarbeit mit der Gerda Henkel Stiftung an weiteren Forschungsprojekten über die Geopolitik der erzwungenen Migration beteiligt.
Voxeurop: In Ihrer Arbeit verwenden Sie den Begriff „die Migration als Waffe einsetzen”. Wie kann man ihn definieren?
Kelly Greenhill: Eine „Waffe“ ist ein Instrument, das von Staaten und nichtstaatlichen Akteurinnen und Akteuren zum Angriff, zur Verteidigung oder zur Abschreckung verwendet wird, um politische, wirtschaftliche und militärische Ziele zu erreichen. Als Waffe eingesetzte Migration bezieht sich im weiteren Sinne auf Situationen, in denen Regierungen oder nichtstaatliche Akteurinnen und Akteure absichtlich die Zu- oder Abwanderung von Menschen herbeiführen, behindern oder manipulieren oder auch nur damit drohen, um politische, wirtschaftliche und/oder militärische Ziele zu erreichen.
Ich identifiziere vier sich überschneidende Arten, Migration als Waffe einzusetzen oder „strategisch zu steuern“. Sie unterscheiden sich durch die Ziele, denen sie dienen sollen.
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Bei der auf „Export“ ausgerichteten Migration besteht das Ziel darin, die innenpolitische Position einer Regierung zu stärken, entweder durch die Ausweisung von Dissidentinnen und Dissidenten oder durch den Versuch, andere Regierungen zu verunsichern, zu demütigen oder zu destabilisieren. Das war es wahrscheinlich, was der belarusische Staatschef Alexander Lukaschenko Ende 2021 vorhatte, als er Migrierende und Asylsuchende aus dem Irak, aus Afghanistan und anderen Ländern nach Belarus lockte, sie dann an die EU-Grenze brachte und sie ermutigte, diese zu überqueren. Das bereitete den Nachbarstaaten und der EU insgesamt politische und humanitäre Probleme.
„Militarisierte“ Migration wird während eines aktiven Konflikts eingesetzt, um einen militärischen Vorteil gegenüber dem Gegner zu erlangen. Sie kann darin bestehen, Bevölkerungsbewegungen zu nutzen, um die Befehls- und Kontrollstrukturen, die Versorgungskette oder die Bewegungsmöglichkeiten des Gegners zu stören oder zu zerstören, oder darin, Arbeitskräfte zu gewinnen, indem die Vertriebenen zum Militärdienst gezwungen werden. Alle am syrischen Bürgerkrieg beteiligten Parteien haben Migration auf diese Art als Waffe eingesetzt – ein übliches Merkmal von Aufständen und Aufstandsbekämpfung.
Bei der auf Enteignung ausgerichteten Migration besteht das Ziel darin, sich das Territorium oder den Besitz der Vertriebenen anzueignen oder sie zu eliminieren, unter dem Vorwand, dass sie eine Bedrohung für die Vorherrschaft der Gruppe darstellen, die Migration als Waffe einsetzt. Dazu gehört das, was häufig als ethnische Säuberung bezeichnet wird und in den Balkankriegen in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens häufig vorkam, und das, was heute im Sudan geschieht, auch wenn es nur wenig Beachtung findet.
Bei der erzwungenen Migration schließlich werden Bevölkerungsbewegungen ausgelöst, behindert oder manipuliert, um von den Zielstaaten politische, militärische und/oder wirtschaftliche Zugeständnisse zu erhalten. Als beispielsweise der frühere libysche Staatschef Muammar Gaddafi damit drohte, Europa mit Migrierenden zu überschwemmen, wenn ihm nicht Sanktionserleichterungen, Milliarden von Euro an Hilfsgeldern und andere Zugeständnisse gewährt würden, wandte er diese Art von Zwang an. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat in ähnlicher Weise wiederholt damit gedroht, Europa mit (meist syrischen) Geflüchteten und anderen Migrierenden zu überschwemmen. Eine dieser Drohungen führte 2016 zu dem vielbeschworenen EU-Türkei-Abkommen.
Es ist nicht neu, dass Migrierende als Waffe eingesetzt werden. Wie weit können wir dieses Phänomen zurückverfolgen?
Jemanden oder etwas als Waffe einzusetzen ist eine uralte Taktik. Wir wissen zum Beispiel, dass strategisch gesteuerte Migration ein verbreitetes politisches Instrument im Assyrischen Reich im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. war. Es handelt sich um eine sehr alte Taktik!
Wie sieht das Profil der Regierungen aus, die diese Methoden anwenden?
Es gibt nicht nur eine Art von Akteur oder Staat, der auf dieses Instrument zurückgreift. Migration wurde sowohl von schwachen als auch von starken, von demokratischen und autokratischen Staaten als Waffe eingesetzt. Vieles hängt von den Zielen derjenigen ab, die in einem bestimmten Fall auf diese Taktik zurückgreifen, und von den wahrgenommenen Vor- und Nachteilen der Verwendung verschiedener Instrumente. Hierzu zählen Maßnahmen wie Migration als Waffe einzusetzen, militärische Gewalt anzuwenden usw. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit, dass demokratische Staaten auf dieses Instrument zurückgreifen, im Durchschnitt weitaus geringer als bei ihren illiberalen Mitstreitern.
Welche Ziele verfolgen diese Regierungen im Allgemeinen?
Die Ziele derjenigen, die dieses Instrument einsetzen, sind recht unterschiedlich. Selbst innerhalb einer einzigen Kategorie, wie z. B. das „Zur-Waffe-Machen“, um den Zielstaaten Zugeständnisse abzuringen, werden ziemlich unterschiedliche Ziele angestrebt. Sie reichen von einfachen Forderungen nach finanzieller Unterstützung am einen Ende des Spektrums bis hin zu komplexen Forderungen nach militärischer Intervention und Unterstützung bei der Durchführung eines Regimewechsels am anderen Ende.
In Ihrer Arbeit sprechen Sie von „Zwangsmigration“ und unterscheiden zwischen „Verursachenden“, „Provozierenden“ und „Opportunistinnen / Opportunisten“. Was bedeuten diese Begriffe?
Die Verursachenden ergreifen direkte Maßnahmen, um grenzüberschreitende Migrationsbewegungen hervorzurufen oder zu behindern. Sie lösen Krisen aus oder drohen zumindest, dies zu tun. Provozierende hingegen ergreifen direkte Maßnahmen, von denen sie glauben, dass sie zur Auslösung von Migrationskrisen durch andere führen. Sie bewirken damit indirekt Krisen. Opportunistinnen / Opportunisten sind eher passiv. Sie lösen weder direkt noch indirekt Krisen aus, sondern manipulieren lediglich Krisen, die bereits von anderen hervorgerufen wurden, oder nutzen sie aus.
Im Laufe der Jahre hat die EU viele Abkommen mit Drittländern geschlossen, um die Migration zu steuern. Könnten diese Abkommen mehr Zwangsmigration fördern, weil die Europäische Union zeigt, dass sie große Anstrengungen unternimmt, um die Einreise in ihr Gebiet zu verhindern, und dass sie auf externe Akteurinnen und Akteure angewiesen ist, wer auch immer diese sein mögen?
Ja, der Versuch, die Migrationssteuerung auszulagern, kann ein zweischneidiges Schwert sein. Absprachen können dazu führen, dass [die Zahl der Migrierenden] niedriger bleibt, als [es] sonst der Fall wäre, wodurch die [Sichtbarkeit] der irregulären Migration in der Innenpolitik verringert wird. Darüber hinaus können sie es [Ländern, die die Migrationssteuerung auslagern] ermöglichen, sich vor Zugeständnissen zu drücken. Allerdings können Länder, die die Migration „speichern“, selbst zu solchen werden, die sie als Waffe einsetzen, was tatsächlich oft der Fall war. Eine kurzfristige Lösung kann also zu längerfristigen Problemen führen, indem sie einen neuen und größeren Pool potenzieller Akteurinnen und Akteure hervorbringt, die die Migration als Waffe einsetzen, sowie Gruppen gefangener Personen, die zu Opfern, zu Waffen, gemacht werden können.
Darüber hinaus kann es für fortgeschrittene liberale Demokratien mit hohen politischen und moralischen Kosten verbunden sein, andere zu bestechen, um Migrierende in Schach zu halten. Die Verletzung humanitärer und rechtlicher Verpflichtungen kann die einwanderungsfeindliche Stimmung im eigenen Land verstärken und die Werte, die liberale Staaten angeblich hochhalten, weiter untergraben. Darüber hinaus ermutigt ein Land, das dies tut, oft andere, es ihm gleichzutun, und löst damit eine Kaskade von illiberalen migrationsfeindlichen Maßnahmen aus. Die Quintessenz ist, dass der Wettlauf nach unten und die Abwälzung der Verantwortung die Verletzlichkeit auf lange Sicht kaum verringern. Diese Verhaltensweisen verschieben die Probleme nur in die Ferne, wo sie größer werden können.
Für fortgeschrittene liberale Demokratien kann es mit hohen politischen und moralischen Kosten verbunden sein, andere zu bestechen, um Migrierende in Schach zu halten
Wenn wir sagen, dass die Migration in Europa als Waffe eingesetzt wird, denken wir oft an Drittländer, die Druck auf europäische Länder ausüben. Gibt es auch den umgekehrten Fall?
Wir haben zahlreiche Fälle erlebt, in denen europäische Länder die Migration genutzt haben, um andere europäische Länder unter Druck zu setzen. Darüber hinaus können europäische Länder Druck auf Länder an der europäischen Peripherie und darüber hinaus ausüben und haben dies auch getan. So gab es im Anschluss an den Arabischen Frühling beispielsweise eine Episode zwischen Frankreich und Italien wegen Geflüchteten aus der MENA-Region.
Häufiger jedoch bieten europäische Länder Drittländern präventiv Abkommen an, um sie davon abzuhalten, dazu beizutragen, die Migration als Waffe einzusetzen, und als Instrument der kontinentalen Migrationssteuerung. Manchmal sind solche Schritte erfolgreich, manchmal bieten sie den Partnerländern lediglich einen Anreiz zur Eskalation und dazu, bessere Angebote zu verlangen. Unabhängig davon, wer Druck auf wen ausübt, sind die Kosten für die Vertriebenen selbst in der Regel erheblich.
Sie erwähnten die Tatsache, dass das „Als-Waffe-Einsetzen als Waffe eingesetzt wird“. Was bedeutet das? Wie gefährlich kann es sein?
Das Als-Waffe-Einsetzen der Migration ist in den letzten Jahren viel sichtbarer geworden als früher, vor allem die mit Zwangsmaßnahmen verbundene Variante. Das liegt daran, dass die Zahl der Regierungen, die bereit sind, diese Taktik öffentlich anzuwenden – im Gegensatz zu privaten Drohungen direkt an Regierungsvertreter*innen – gestiegen ist. Ebenso ist die Zahl der Länder gestiegen, die bereit sind, öffentlich zuzugeben, dass sie von Freund und Feind erpresst werden. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu den vergangenen Jahrzehnten.
Diese zunehmende Transparenz hat ihre Vor- und Nachteile. Einerseits macht sie die Forderungen der Nötiger*innen glaubwürdiger, was wiederum die betroffenen Regierungen dazu veranlassen könnte, frühzeitig und vor der Krise Verhandlungen zu führen. Das kann von unschätzbarem Wert sein, wenn es darum geht, das Entstehen einer umfassenden humanitären und politischen Krise zu verhindern. Andererseits kann die politisch zweckdienliche Behauptung, Gegner*innen würden die Migration als Waffe einsetzen – das ist für mich eine Art, das Als-Waffe-Einsetzen der Migration als Waffe einzusetzen – als politische Tarnung für die Verabschiedung einer illiberalen und möglicherweise illegalen Einwanderungspolitik dienen und dazu beitragen, eine Reihe von Maßnahmen zu rechtfertigen, die andernfalls mehr Widerstand hervorrufen würden. Damit will ich sagen, dass Politiker*innen manchmal die Karte „Schutz vor der Nutzung der Migration als Waffe“ ausspielen, um die Verabschiedung restriktiver politischer Maßnahmen zu verteidigen und/oder die Aufmerksamkeit von potenziell illegalem Verhalten im Zusammenhang mit Abschiebungen abzulenken.
Dies bedeutet, dass sowohl gerechtfertigte als auch potenziell unbegründete Behauptungen, die Migration würde als Waffe eingesetzt, strategisch im Dienste anderer politischer Ziele und Maßnahmen genutzt werden können. Solche Schritte werden wahrscheinlich das globale Geflüchtetenregime und die universellen humanitären Standards, die es etablieren und verankern wollte, weiter schwächen.
Darüber hinaus kann das „Als-Waffe-Einsetzen des Als-Waffe-Einsetzens der Migration“ von externen Rivalen und strategischen Wettbewerbern weiter ausgenutzt werden. Sie können von dem politischen Terrain profitieren, das von inländischen Politikerinnen und Politikern, die sich daran beteiligen, das Als-Waffe-Einsetzen der Migration als Waffe einzusetzen, bereits vorbereitet wurde, um schädliche Gerüchte und andere Arten von Desinformation in den Zielstaaten zu verbreiten. So wird das Misstrauen in die inländischen Institutionen und in die Fähigkeit der nationalen Regierungen, ihre Bevölkerung zu schützen und ihre Grenzen zu sichern, weiter verstärkt, was sich nachteilig auf die nationale Sicherheit auswirkt.
🤝 Dieser Artikel wurde im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts Come Together veröffentlicht.
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1 | image | Ameen Alhabarah voxeurop | |
2 | image | Kelly Greenhill voxeurop |