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Orbáns Queer-Zensur, eine Grauzone

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Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Fidesz-Regierung gelten wegen ihrer gender- und homophoben Ideologie als Sonderfall in der Europäischen Union. Die Europäische Kommission verklagte Budapest im Jahr 2022 sogar wegen eines Anti-LGBTQ+-Gesetzes, das als „Kinderschutzgesetz“ bekannt ist.

Das umstrittene Gesetz, das am 15. Juni 2021 verabschiedet wurde, enthält gleichzeitig ein Register für pädophile Sexualstraftäter nach US-amerikanischem Vorbild und ein Verbot nach russischem Vorbild, Minderjährige im Rahmen der Sexualerziehung und der allgemeinen Darstellung in Bildung, Medien und Werbung der sogenannten LGBT+-Propaganda auszusetzen.

Das Gesetz wird im In- und Ausland weithin kritisiert, weil es Gleichheit, Grundrechte, Meinungsfreiheit und das Recht auf Information untergräbt. Indem es die Grenzen zwischen sexuellen Minderheiten und Kinderschändern verwischt, suggeriert das Gesetz zudem, dass beide Kategorien eine ähnliche soziale Verurteilung verdienen. Es wird auch deshalb angeprangert, weil der Schwerpunkt „LGBTQ+-Propaganda“ nicht klar definiert ist, was eine subjektive Auslegung zulässt und Verwirrung und potenziellen Missbrauch ermöglicht.


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Was besagt das Gesetz?

Das Gesetz verbietet die Bereitstellung von Inhalten für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die „Sexualität zu eigenen Zwecken fördern oder darstellen oder die Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität fördern oder darstellen“. Weitere von der wichtigsten Regulierungsbehörde – der Medienbehörde – veröffentlichte Leitlinien besagen, dass Kinder nicht mit Themen wie Geschlechtsumwandlung und Homosexualität konfrontiert werden sollten, wenn diese Themen als zentrale, wesentliche oder unverzichtbare Bestandteile des Inhalts hervorgehoben werden. Die Empfehlung besagt auch, dass die Darstellung solcher Themen als soziale Normen und attraktive Lebensstile Propaganda darstellt, die angeblich darauf abzielt, LGBTQ+-„Ideologien“ zu verbreiten und Minderjährige zu beeinflussen.

Die Medienbehörde stellt zwar eine kurze Liste von Produktionen zur Verfügung, die eingeschränkt werden sollen, wie z.B. die amerikanischen Fernsehserien „The L Word“ und „Queer as Folk“ oder Pedro Almodóvars dramatische Komödie „Alles über meine Mutter“, aber es wird nicht erklärt, was „Propaganda“ ist und was bestimmt, ob queere Elemente im Mittelpunkt eines Kunstwerkes stehen. In Ermangelung präziser Definitionen können sich nur aus früheren Entscheidungen der Medienbehörde und der Gerichte genaue Anhaltspunkte ergeben.

Uneinheitliche Durchsetzung

Im Prinzip überwacht oder kontrolliert die Medienbehörde die ungarische Werbung nicht direkt. Sie war jedoch an Fällen beteiligt, die entweder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zogen oder die nach Berichten der Verbraucherschutzbehörden verfolgt wurden. Das Kinderschutzgesetz wird jedoch keineswegs einheitlich durchgesetzt.

So gibt es auf der Website der Medienbehörde ein einfach auszufüllendes Formular für anonyme Meldungen. In den sechs Monaten zwischen Juni 2021 und dem Jahresende gingen 84 Meldungen von Bürgerinnen und Bürgern ein, die sich auf das Kinderschutzgesetz bezogen, aber in den ersten acht Monaten des darauffolgenden Jahres waren es nur 12.

Die Aufsichtsbehörde erklärte gegenüber Journalistinnen und Journalisten, dass keine der 96 von Bürgerinnen und Bürgern eingereichten Beschwerden weiterverfolgt wurde. Die Wirksamkeit des Gesetzes wird außerdem durch das nationale und internationale rechtliche Umfeld beeinträchtigt. Die Bestimmungen des Mediengesetzes gelten nur für in Ungarn ansässige Mediendienstleister und schließen ausländische Mediendienste, die im Land verfügbar sind, aus.

Dessen ungeachtet erhob die Medienbehörde im Jahr 2022 Einwände gegen Streaming-Plattformen wie Netflix und Disney+. Die Streaming-Anbieter ignorierten die Beschwerden, aber die Medienbehörde argumentierte, dass diese Unternehmen für die Einhaltung der ungarischen Gesetze „verantwortlich“ seien, obwohl das nicht der Fall ist.


Die anhaltende Fokussierung und das Agenda-Setting rund um dieses Thema dienen dazu, diejenigen, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen, als antinationale Akteure darzustellen


Das Gleiche gilt für Social-Media-Plattformen und Websites, die auf nicht-ungarischen Servern gehostet werden, wo die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder auf schädliche Inhalte stoßen, wohl größer ist. Die Regierung und die regierungsnahen Medien ignorieren diesen eklatanten Widerspruch einfach. Darüber hinaus versäumen sie es, sich für die Verbesserung der Medienkompetenz von Kindern einzusetzen oder Programme zu entwickeln, die Lehrerinnen bzw.

Lehrern und Eltern helfen, Kinder zu schützen. Stattdessen nimmt die Medienbehörde sorgfältig ausgewählte, in Ungarn ansässige Einrichtungen mit klar definierten Profilen und Zielgruppen ins Visier – einheimische analoge Medien, Museen und Buchhandlungen – um dann vor den nationalen Gerichten zu scheitern.

Beispiele für diese Widersprüche gibt es zuhauf. Während das niederländische Netflix die schwule Coming-of-Age-Serie Heartstopper frei streamt, wurde die ungarische Buchhandlung Líra im Juli 2023 zu einer Geldstrafe von 30.000 Euro verurteilt, weil sie den Originalroman Heartstopper in der Jugendbuchabteilung ausgestellt hatte. Die Buchhandlung hat die Entscheidung vor Gericht angefochten und gewann im Februar 2024 aufgrund eines Zeichensetzungsfehlers im Gesetz. (Obwohl das Problem im vergangenen Oktober entdeckt wurde, hat die Regierung das fehlende Komma erst vor kurzem eingefügt).

Das ist nicht die einzige Ungereimtheit in der Art und Weise, wie Buchläden ins Visier genommen werden. Líra wurde zu einer zusätzlichen Geldstrafe von 12.500 Euro verurteilt, weil sie das Buch „Good Night Stories for Rebel Girls“ (Gute-Nacht-Geschichten für rebellische Mädchen) als Jugendliteratur ausgestellt hatte. In dem Buch ist unter 100 weiblichen Biografien auch die Geschichte eines Transgender-Mädchens zu finden. Das Gericht wies den Fall jedoch ebenso wie das Heartstopper-Bußgeld ab. Eine andere Buchhandlung wurde am 13. Februar 2024 wegen desselben Buches zu einer Geldstrafe von nur 2.500 Euro verurteilt.

Größere Unternehmen haben ihre eigenen Bewältigungsmechanismen, wenn es darum geht, sich in der unsicheren Realität des ungarischen Marktes zurechtzufinden. Auf eine Frage von Amnesty International Hungary antworteten große multinationale Unternehmen, dass ihre internationalen Werbekampagnen mit LGBTQ+-Bezug oder zum Pride Month in Ungarn einfach nicht mehr lohnenswert seien, da sie keinen Grund sehen, Strafen in Höhe von bis zu 1,2 Millionen Euro zu riskieren. Der deutsche Fernsehsender RTL berichtete von regelmäßigen, präventiven Konsultationen mit der Medienbehörde, um Strafen zu vermeiden.

Ein öffentliches Durcheinander

Das Anti-LGBTQ+-Gesetz hat sowohl in nationalen als auch in kommunalen Einrichtungen zu Kontroversen geführt. Im Jahr 2023 machte der Vorsitzende der rechtsextremen Partei Mi Hazánk („Unsere Heimat“) auf eine World-Press-Photoausstellung in der ungarischen Nationalgalerie aufmerksam, die u. a. Bilder älterer schwuler Männer zeigte, die in einem Altenheim leben.

Er behauptete, die nationale Institution verstoße gegen das Kinderschutzgesetz, indem sie in einer Ausstellung ohne Altersbeschränkung für Homosexualität werbe. Als Reaktion auf diese Behauptungen wies der Kulturminister den vom Fidesz ernannten Museumsdirektor an, die Ausstellung nur für Volljährige zugänglich zu machen.

Da Museen nicht befugt sind, von den Besucherinnen und Besuchern einen Ausweis zu verlangen, lehnte László L. Simon diese Forderung ab. Er wurde deshalb vom Kulturminister wegen „mangelnder Führungsqualitäten“ entlassen. Die Behörden gingen nicht auf die Tatsache ein, dass das Kinderschutzgesetz keinen entsprechenden Abschnitt über Museumsausstellungen enthält.

L. Simon selbst hatte als Abgeordneter des Fidesz im ungarischen Parlament im Jahr 2021 für das Kinderschutzgesetz gestimmt. Auch nach seiner Entlassung setzte er sich für das Gesetz ein und kritisierte nur dessen lockere Anwendung. Die World Press Photo-Ausstellung in der National Gallery verzeichnete nach der Kontroverse Rekord-Besucherzahlen. Parallel zum Skandal im Nationalmuseum schloss das Museum für Völkerkunde einen Teil seiner laufenden Ausstellung mit Fotos homosexueller Männer, um mögliche Konsequenzen zu vermeiden.

Die Last der Vagheit

Während diese präventive Praxis der Selbstzensur absurd erscheinen kann, wenn sie von einer Institution ausgeübt wird, die eine Bestrafung vermeiden will, kann sie für den einzelnen Menschen eine regelrechte mentale und psychologische Folter bedeuten.

Dies war bei Gideon Horváth, einem renommierten Bildhauer, dessen Arbeit oft auf theoretischen Grundlagen der Queer-Ökologie oder Queer-Geschichte beruht, der Fall. Seit 2021 wurde der Künstler wiederholt von den Behörden der Kunstinstitutionen abgemahnt. Im Jahr 2022 versuchte der Direktor eines autonomen Budapester Stadtmuseums, Horváths erklärende Texte aus einer Gruppenausstellung zu zensieren.

2023 wurde Horváth im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt Veszprém-Balaton zu einem Residenzprogramm eingeladen. Sein Arbeitsplan zum Thema „Queer Ecology“ wurde zunächst angenommen, aber später wurde er unter Druck gesetzt, einige Wörter zu streichen, um dem „politischen Klima“ zu entsprechen. Er weigerte sich und erreichte nach einer langen Debatte, dass die Beschreibungen seiner Werke ohne Änderungen veröffentlicht wurden.

Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich im September 2023 im Programm der öffentlichen Kunstbiennale der Budapester Stadtgalerie, die ursprünglich von der Orbán-kritischen politischen Führung der ungarischen Hauptstadt unterstützt wurde. Unter Berufung auf das Kinderschutzgesetz versuchte der Vizedirektor der autonomen städtischen Galerie Deák17 – die einen Teilbereich der Biennale ausrichtete – zu verhindern, dass die Beschreibungen von Horváths Werken in der Ausstellung erscheinen.

Nach ausführlichen Diskussionen gelang es Horváth, seine Texte zu zeigen, wenn auch mit geschwärzten LGBTQ+-bezogenen Wörtern. Auf diese Weise stellte er die Auswirkungen der Zensur auf eine performative Weise dar. Ein ähnlicher Text erschien in einer anderen Sektion desselben Festivals unzensiert im öffentlichen Raum.

Daraufhin wurde Horváth von der unabhängigen Esterházy-Stiftung für einen renommierten Preis nominiert und nahm an der Ausstellung für die in die engere Wahl gekommenen Künstler*innen des staatlich finanzierten Ludwig-Museums teil. Trotz Horváths Argumenten beschloss der vom Fidesz ernannte Museumsdirektor, seinen Begleittext zu zensieren. Am Ende gewann Horváth den Preis, und das Museum erwarb einige der Werke für die öffentliche Sammlung.

Danach berichtete Horváth in den sozialen Medien, dass er nicht nur die wiederholte Zensur über sich ergehen lassen musste, sondern auch von seinen Kritikerinnen und Kritikern, die ansonsten gegen das Establishment sind, gepeinigt wurde. Sie warfen ihm vor, die staatlich verordnete institutionelle Zensur zu legitimieren, indem er an der Ausstellung teilnahm, anstatt sie aus Protest zu sanktionieren. Diese Vorwürfe implizierten, dass es nur Horváths moralische Verpflichtung war, auf eine wichtige Karrierechance zu verzichten, einschließlich der Nominierung, der prestigeträchtigen Ausstellungsmöglichkeit und der Chance, den Preis zu gewinnen.

Vielleicht ist es dieses letzte Beispiel, das am besten veranschaulicht, welche Belastung die extreme Unbestimmtheit des unlogischen Gesetzes und seine uneinheitliche Anwendung für einzelne Künstler*innen, NGO, Verlage und andere Unternehmen darstellt. Jedes Mal, wenn sie in Erwägung ziehen, etwas zu veröffentlichen oder auszustellen, das auch nur am Rande mit der Darstellung sexueller Minderheiten in Verbindung gebracht werden kann, sind sie mit extremer Unsicherheit konfrontiert.

Doch trotz der Anti-LGBTQ+-Rhetorik der Regierung hat die Akzeptanz von LGBTQ+-Menschen in Ungarn in den letzten Jahren nicht abgenommen. Tatsächlich zeigen die Ergebnisse einer internationalen Umfrage von IPSOS 2023 das genaue Gegenteil: Die Unterstützung für die gleichgeschlechtliche Ehe in Ungarn ist in den letzten 10 Jahren von 30 auf 47 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum stieg die Unterstützung für die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare von 42 auf 59 Prozent. Ist die gesamte Anti-LGBTQ+-Propaganda gescheitert?

Ein Instrument der Spaltung und Ablenkung

Selbst wenn man die Erklärung der Regierung akzeptiert, das Gesetz diene dem Schutz der Kinder, entlarvt seine inkonsequente Umsetzung die eklatante Heuchelei des Fidesz. Das Gesetz kann nicht im Sinne einer ideologischen Strenge interpretiert werden, sondern nur als politischer Opportunismus. Während ungarische Aktivistinnen und Aktivisten, Künstler*innen und Verlage damit beschäftigt sind, das Gesetz zu interpretieren, nutzt die Regierung die Möglichkeiten, die sich aus der anhaltend unklaren Situation ergeben.

Wie erwartet nutzt die Fidesz-Regierung das Gesetz und die reaktionären kritischen Stimmen zur Legitimierung ihres symbolischen Kampfes gegen die angeblichen Versuche der Europäischen Union, die ungarische Souveränität zu unterwerfen und die nationale kulturelle Identität zu zerstören.

Für die Regierung reicht es aus, eine unsichere Situation zu schaffen, um auf der Grundlage einer genderfeindlichen Ideologie einen Keil in das Gefüge der Gesellschaft zu treiben und LGBTQ+-Organisationen und ihre politischen und sozialen Verbündeten zu dämonisieren und weiter vom gesellschaftlichen Mainstream zu entfremden. Darüber hinaus erlaubt das Gesetz dem Fidesz, Oppositionsparteien und die liberalen Intellektuellen zu unterdrücken, die LGBTQI+ Anliegen unterstützen.

Die anhaltende Fokussierung und das Agenda-Setting rund um dieses Thema dienen dazu, diejenigen, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen, als antinationale Akteure darzustellen. Ihnen wird vorgeworfen, eine Form des Verrats zu begehen, indem sie darauf abzielen, die ungarische Souveränität zu zerstören. Damit diese Strategie erfolgreich ist, braucht die ungarische Regierung kein gut durchdachtes Gesetz, das nur mit großen finanziellen und infrastrukturellen Investitionen umgesetzt werden kann. Es reicht aus, dass ein solches Gesetz existiert, damit man sich in bestimmten Situationen darauf berufen kann, wenn das Ethos der Regierung es erfordert.

Natürlich sind diese Ereignisse keine Einzelfälle, sondern fügen sich in die breitere aggressive Propaganda gegen die LGBTQ+-Gruppen ein, die von den regierungsnahen Medien ausgeht. Diese Kanäle entmenschlichen regelmäßig Angehörige sexueller Minderheiten und betreiben gezielte Rufmordkampagnen. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, wird das Kinderschutzgesetz routinemäßig an tagespolitische Themen angepasst.

Fazit: Die innenpolitische Konsequenz aus der auffallenden Ungerechtigkeit des Gesetzes ist nach wie vor nicht seine Einhaltung, sondern die inkonsistente Nichteinhaltung, die ein erdrückendes Klima der totalen Unsicherheit schafft

👉Original und vollständige Version auf Green European Journal
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