Amerikas neue junge Generation interessiert sich nicht mehr für Europa
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Während der gesamten 90-minütigen Debatte zwischen Donald Trump und Kamala Harris, die beide für die US-Präsidentschaftswahl kandidieren, hörte ich die Worte „Europa“ und „Ukraine“ nur viermal.
Trump prahlte mehrmals, dass er die europäischen Länder zwingen wolle, ihren „gerechten Anteil“ an die NATO zu zahlen; Harris wiederholte das altbekannte Versprechen der Demokratischen Partei, dass Amerika seinen Verbündeten beistehen werde, „wie es das immer tun sollte, als eine Führungsmacht, die internationale Werte und Normen hochhält.“
Das war alles. Abgesehen davon, dass Trump Viktor Orbán als „starke Person ... klug“ bezeichnete und der Kandidat und die Kandidatin sich darüber stritten, wer Putin die Stirn bieten könne, wurden weder die Bedrohung Europas durch Russland noch der Klimawandel erwähnt. Dieses Thema scheint die EU weitaus ernster zu nehmen als das Weiße Haus unter Joe Biden, und sicherlich ernster als Trump.
Tatsache ist, dass die US-Bevölkerung in den letzten 50 Jahren – und in jüngerer Zeit aufgrund der großen Einwanderungswellen – weniger europäisch geworden ist und sich deutlich weniger für Europa interessiert.
Demografisch gesehen hat sich die Bevölkerung in den letzten 50 Jahren radikal verändert. Während die Eingewanderten der ersten Generation in den USA vor fünfzig Jahren 6 % der Bevölkerung ausmachten, beträgt ihr Anteil heute über 14 %.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2017 sind „die Amerikaner*innen rassisch und ethnisch vielfältiger“ und „die Vielfalt der US-Bevölkerung wird sich in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich noch vergrößern. Bis 2055 wird es in den USA keine einzige rassische oder ethnische Mehrheit mehr geben“.
Im Jahr 2008 prognostizierte das US Census Bureau, dass bis 2043 die „weißen“ Amerikaner*innen nicht mehr in der Mehrheit sein würden. Diese Vorhersage alarmierte einige Kreise so stark, dass seitdem die Definition von „weiß“ hoffnungslos verworren ist. Aber Expertinnen und Experten scheinen sich einig zu sein, dass die USA bis Mitte des 21. Jahrhunderts kein Land mehr sein werden, in dem die nicht-hispanischen Weißen die Mehrheit bilden, ganz gleich, welchen Maßstab man anlegt.
Für Amerikaner*innen, die alt genug sind, um sich daran zu erinnern, wie sehr wir London, Paris und Rom als Bastionen der Kultur verehrten – die darüber hinaus als Reiseziele billig genug waren, damit wir nicht nur Monate in Kirchen und Museen, sondern auch in Kneipen und Cafés verbringen konnten – ist dieser Wandel unerwartet und ein wenig beunruhigend. Für meine Generation war Europa die Heimat unserer Vorfahren, der Kulturgeschichte, der republikanischen Grundsätze und unserer Träume von einer Kultiviertheit, die wir nur anstreben konnten. Das ist jetzt vorbei.
Die Abkehr von Europa ist kulturell und politisch ebenso tiefgreifend wie demografisch. Hispanische und ostasiatische Kulturen dominieren (oder haben zumindest einen zunehmenden Einfluss auf) alles Amerikanische, von der Küche über die Mode bis zur Musik. Die Erforschung unserer eigenen Geschichte hat sich von europäisch inspirierten Institutionen auf die Unterdrückung nicht-europäischer Minderheiten verlagert. Denken Sie nur an Bill Clintons Nähe zu Tony Blair, Obamas Freundschaft mit Macron, Bernie Sanders' Lob für Dänemark als vorbildlichen sozialdemokratischen Staat: Das alles gehört einer diffuseren und stärker eurozentrischen Vergangenheit an.
Aufgrund der Einwanderung und des gestiegenen Bewusstseins für unterdrückte Minderheiten ist die jüngere Generation weitgehend frei von Vorurteilen, die schon immer hinter der Patina des amerikanischen Optimismus geschwelt haben
Trump verhält sich gegenüber Europa offensichtlich wie ein Vermieter, der einen abtrünnigen Mieter jagt; Harris, die praktisch ihre gesamte politische Karriere so weit von Europa entfernt verbracht hat, wie es für eine Amerikanerin nur möglich ist, unternahm erst vor drei Jahren ihre erste diplomatische Reise dorthin. Viel mehr als ein höfliches Lächeln hatte sie zu diesem Anlass allerdings nicht zu bieten.
Es mag an meiner begrenzten Erfahrung liegen, aber ich habe den Eindruck, dass sich die Beziehungen zwischen Europa und den USA auch in der anderen Richtung lockern. Als ich im letzten Herbst an der BISLA (Bratislava International School for Liberal Arts), einem englischsprachigen BA-Studiengang in der Slowakei, einen kurzen Kurs über zeitgenössische amerikanische Politik für Studierende gab, bekundete nicht einer der Teilnehmenden Interesse an einem Studienabschluss in den USA. Grund Nr. 1: „Wir wollen nicht erschossen werden.“ Grund Nr. 2: „Es ist unglaublich teuer.“ Grund Nr. 3: „Selbst nach dem Brexit können wir in der EU noch völlig kostenlos englischsprachige Graduiertenprogramme besuchen.“
Obwohl die Europäer*innen die Gewohnheit, alles Amerikanische zu studieren – von Stand-up-Comedy bis hin zu den Handelsbeziehungen mit China – noch nicht ganz abgelegt haben, hat man das Gefühl, dass viele Europäer*innen den USA generell ablehnend gegenüberstehen, dass deren beste Zeiten vorbei sind und dass – was für amerikanische Europhile wie mich besonders schmerzlich ist – die USA nicht mehr als das Ideal eines demokratischen Staates gelten.
Eine neue junge Generation hinter der Patina des „amerikanischen Optimismus“
Wie geht es nun mit den Beziehungen zwischen den USA und Europa weiter? Das ist schwer zu sagen, auch weil die USA in den letzten Jahren eine unberechenbare „Außenpolitik“ betrieben haben, die von Bushs tollkühnem Irak-Krieg über Obamas Konservatismus in Syrien bis hin zu Trumps Verachtung für die NATO und seinem Rücktritt vom Pariser Klimaabkommen reichte. Da sich die Macht immer mehr auf die amerikanische Exekutive konzentriert, wird diese Unberechenbarkeit wahrscheinlich anhalten.
Trotz alledem besteht zwischen den USA und Europa nach wie vor eine tiefe Verbundenheit. Die USA mögen eine geschundene Demokratie sein, aber dasselbe gilt auch für einige europäische Nationen. Dennoch besteht ein gemeinsames demokratisches Ideal fort. Militärisch und wirtschaftlich sind wir miteinander verbunden: Wie zögerlich die Regierung Biden bei der Bewaffnung der Ukraine auch sein mag, ihr Engagement scheint, zumindest bis zum jetzigen Zeitpunkt, festzustehen.
Ich denke jedoch, dass die europäischen Amerika-Beobachtenden ihre blauäugige Ungläubigkeit, der sie sich hinzugeben scheinen, überdenken und darüber nachdenken sollten, wie veraltet ihre Annahmen über die USA sein könnten.
Wie ist es möglich, fragen mich einige europäische Freundinnen und Freunde, dass die USA tatsächlich Donald Trump für eine zweite Amtszeit wählen könnten? Wie ist es möglich, dass US-Bundesstaaten Abtreibungen verbieten, den Bürgerinnen und Bürgern aber das Tragen von Sturmgewehren erlauben? Ob verwirrend oder nicht, diese und viele andere harte Wahrheiten sind, um es mit den Worten von Trumps Kandidaten für den Vizepräsidenten zu sagen, „traurige Tatsachen des Lebens“ – oder zumindest traurige Tatsachen des Lebens im Amerika des Jahres 2024. Je eher man sie als „Tatsachen“ und nicht nur als alptraumhafte Fantasien akzeptiert, desto eher kann man herausfinden, wie sie zustande gekommen sind und wie man mit ihnen umgehen kann.
Ich glaube nicht, dass die jüngsten Veränderungen in den USA durchweg negativ sind. Zum einen hat das Bild der USA als „Schmelztiegel“ nie gestimmt. Vielmehr war die Nation seit ihren Anfängen ein Konglomerat religiöser, ethnischer und rassischer Gruppen, die sich gegenseitig kaum tolerierten. Dies scheint sich zu ändern.
Aufgrund der Einwanderung und des gestiegenen Bewusstseins für unterdrückte Minderheiten ist die jüngere Generation weitgehend frei von Vorurteilen, die schon immer hinter der Patina des amerikanischen Optimismus geschwelt haben. Alle Umfragen lassen darauf schließen, dass junge Amerikaner*innen die rassische und sexuelle/geschlechtliche Vielfalt weitaus mehr akzeptieren als ihre Vorfahren. In ein oder zwei Generationen werden die Amerikaner*innen vielleicht nicht nur anders aussehen, sondern auch ganz anders denken, zumindest was die soziale Interaktion angeht: Der Kapitalismus mag zwar in den USA nicht schwinden, aber der Tribalismus schon. Zumindest in dieser Hinsicht könnten die USA in Zukunft etwas Positives zu bieten haben.
Aber der Elefant im Raum bleibt: der Klimawandel. So fragmentiert unser Planet heute auch erscheinen mag – und so sehr das Internet Insularität und Universalität geschaffen hat –, dieses eine Thema überschreitet alle Grenzen. Es könnte der große Einiger der Zukunft werden, der angesichts der Auslöschung des Planeten Gier, Kriegen und politischen Differenzen ein Ende setzt. Oder auch nicht – und dann könnte man wirklich von einem Sieg des bitteren Zynismus von JD Vance – seine Akzeptanz der „traurigen Tatsachen des Lebens“ – sprechen.
🤝 Dieser Artikel wurde im Rahmen des kollaborativen Projekts Come Together veröffentlicht.
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