Migration: eine Europäische Nekropolitik
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„Nekropolitik“ ist die Macht zu sagen, „wer leben darf und wer sterben muss“. So definiert der kamerunische Historiker und Politologe Achille Mbembe den Begriff, den er als Erster gründlich erforscht hat und der heute unter anderem verwendet wird, um das Vorgehen von Regierungen im Krieg oder die Migrationspolitik, insbesondere in Europa, zu beschreiben. Für den kamerunischen Denker stellt dieses „Recht zu töten“, das sich Staaten anmaßen, „den ultimativen Ausdruck von Souveränität“ dar.
Das Konzept taucht in den Mainstream-Medien jedoch selten auf. Daher war ich überrascht, als ich sah, dass es von der spanischen Zeitschrift El Salto aufgegriffen wurde und im Zusammenhang mit der Migrationspolitik des iberischen Staates gebraucht wurde. Dort heißt es: „Die Nekropolitik des [spanischen] Staates hat 1.538 Mädchen und Jungen und 421 Frauen das Leben gekostet“, wobei die Zahlen und der Begriff von dem Kollektiv zur Verteidigung der Rechte von Migranten Caminando Fronteras übernommen wurden.
Spanien befindet sich heute im Zentrum eines Migrationsdramas, das den Tod Tausender Menschen mit sich bringt, was jedoch auf allgemeine Gleichgültigkeit stößt. „Die Zahl der 10 457 Menschen, die [2024] auf den verschiedenen Routen nach Spanien getötet wurden, bedeutet einen Anstieg der Todesfälle dort um 58 % im Vergleich zum Vorjahr“, erklärt El Salto, ebenfalls auf Grundlage der Zahlen von Caminando Fronteras. „Die meisten der Opfer waren auf der Kanarenroute unterwegs, wo 9 757 Menschen starben, wieder einmal“. Damit ist sie laut dem Kollektiv die tödlichste Migrationsroute der Welt.
Sie kommen aus Mauretanien, Marokko, Gambia oder dem Senegal. Je nach ihrem Ausgangspunkt begeben sich diese Exilanten auf eine Reise, die eine bis mehrere Wochen dauern kann. Sie überqueren Tausende von Kilometern auf hoher See, um die Küste der Kanarischen Inseln zu erreichen. Viele sterben - 2024 war es nach Angaben des Kollektivs alle 45 Minuten ein Mensch, wie die kanarische Tageszeitung La Provincia berichtet.
Einmal angekommen, sind die Migranten mit Aufnahmesystem und Behörden konfrontiert, die mit der Situation überfordert sind. Zwar geht die sozialistische Regierung neue Wege, indem sie die Regularisierung Hunderttausender undokumentierter Migranten beschloss und die Verteilung minderjähriger Migranten innerhalb der spanischen autonomen Gemeinschaften vorschlägt, doch scheint ihr die Situation derzeit entglitten zu sein.
2024 kamen 63.970 Menschen illegal nach Spanien, 46.843 davon über die Kanarischen Inseln. Um den Zustrom aus Westafrika zu bremsen, unterzeichnete Spanien im August 2024 Kooperationsabkommen mit Gambia und Mauretanien, die auf die Bekämpfung von Schleusern, die Förderung regulärer Ankünfte und die Eindämmung von Abwanderungen abzielen. Abkommen, die an die Anfang letzten Jahres zwischen der EU und Mauretanien geschlossene Partnerschaft erinnert.
Die Tragödie ist mittlerweile so groß, dass sich auch nichteuropäische Medien damit auseinandersetzen. Das linke amerikanische Magazin Jacobin hat eine eindringliche Reportage von Eoghan Gilmartin veröffentlicht. Darin schildert er die gefährliche Reise von den afrikanischen Küsten bis nach Spanien mit Zeugenaussagen von Migranten, die von ins Meer geworfenen Toten und unzähligen Vermissten berichten. „Das Phänomen des Massensterbens an den Grenzen Spaniens kann nicht einfach als eine Reihe von Einzeltragödien verstanden werden. Alle diese Toten sind Opfer der brutalen Festung Europa - ein Grenzregime, das abschreckend wirken soll auf Migranten aus dem Süden und diese zwingt, sich immer größeren tödlichen Gefahren auszusetzen“, schreibt Gilmartin.
Für ihn beweist die Zunahme der Reisen in Richtung der Kanaren die „begrenzte Wirksamkeit einer solchen Eindämmungspolitik, die so viele Menschen zu Leid und Tod verurteilt, ohne die tieferen Ursachen zu bekämpfen, die Menschen zu einer solchen Reise veranlassen, trotz des Risikos“. Genau das ist Nekropolitik.
In einem Gastbeitrag in El País fordert die Sozialistin und ehemalige Europaabgeordnete Anna Terrón i Cusí ein besseres Verständnis des Migrationsphänomens, insbesondere des ihm zugrunde liegenden Mechanismus und den daraus entstehenden Folgen. „Innerhalb der Union können wir beobachten, wie Arbeitsvisa ständig zunehmen. 2022 stellten die EU-Mitgliedstaaten 1,6 Millionen beschäftigungsbezogene Aufenthaltsgenehmigungen aus.“
„Die Öffnung nach außen würde es ermöglichen, über rein transaktionale Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern hinauszugehen“, schreibt sie weiter und tritt für ein Verständnis von Migration als Triebfeder der europäischen Außenpolitik ein. „Die Realität der verschiedenen lokalen, regionalen und internationalen Migrationsdynamiken zu kennen und zu berücksichtigen, würde es ermöglichen, sie als ein weiteres Element der europäischen Entwicklungsstrategie zu berücksichtigen. Nur wenn wir die strukturelle Natur der Migration und ihre Rolle als Teil der Geoökonomie anerkennen, können wir Fortschritte bei ihrer Steuerung erzielen.“
Einen Perspektivwechsel schlägt auch Sertan Sanderson von der Deutschen Welle vor. Ihm zufolge geht es in den Narrativen, die Einwanderungspolitik heute beherrschen, viel zu selten um „die Anfänge der Migration. Auch wird die Sichtweise der Menschen, die ihre Heimat verlassen wollen und dabei alles zurücklassen, zu wenig berücksichtigt“. Der von Sanderson zitierte Aktivist Hardi Yakubu von der Organisation Africans Rising weist darauf hin, dass genau dies „Migranten zu einer der am meisten entrechteten und missverstandenen Gruppen der Welt gemacht hat.“
Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich im Laufe meiner Presseschauen wiederhole, sei daran erinnert, dass die EU und die meisten ihrer Mitgliedstaaten zu einem solchen Perspektivenwechsel nicht bereit sind. Sie bevorzugen „radikale Ideen zur Migration“, wie Giovanni Legorano es leicht euphemistisch in Foreign Policy nennt. Er weist in einem ausführlichen Bericht auf die europäische Politik der Externalisierung von Migration hin und erklärt die Hindernisse, auf die diese stößt und auch in Zukunft stoßen wird.
Es ist jedoch dringend notwendig, die üblichen Debatten über die von der Festung Europa praktizierte Migrations(nekro)politik mit ihren repressiven Maßnahmen hinter uns zu lassen. Die Rückzugslösungen sind ebenfalls unvollkommen und bedürfen einer friedlichen Diskussion über ihre Machbarkeit und Kohärenz.
Selbst der wohlwollendste Mainstream-Diskurs in Bezug auf Migration, der diese als Mittel zur Bekämpfung der Bevölkerungsalterung und des Arbeitskräftemangels sieht, bleibt nicht von Kritik verschont. Denn auch wenn die Absicht dahinter gut sein mag, so ist sie doch Ausdruck einer gewissen transaktionalen Sichtweise der Migration, bei der der Platz der Migranten in Europa und ihre Freizügigkeit davon abhängen, ob sie die Bedürfnisse der potenziellen Aufnahmeländer erfüllen können - auch das ist eine seltsame Vorstellung von einer „menschlicheren“ Migration.
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