Migrations-Deal zwischen Italien und Albanien: Wer entscheidet, was ein sicheres Herkunftsland ist?
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Viele Behauptungen wurden im Zusammenhang mit diesem umstrittenen Asylabkommen getroffen. Darunter folgende: Die italienische Regierung unter der Leitung von Giorgia Meloni behauptet, dass italienische Gerichte mit der Einrichtung von Aufnahmezentren in Albanien nationales Recht über EU-Recht stellen können, auch wenn es letzterem widerspricht.
Zusammenfassung: Diese Behauptung bezieht sich auf ein Dekret der italienischen Regierung zur Definition „sicherer Herkunftsländer“ für Asylbewerber, das nach Ansicht von Kritikern gegen EU-Recht verstößt, was zu Spannungen zwischen Italiens Exekutive und Judikative geführt hat. Rechtsexperten wie Gianfranco Schiavone und Fulvio Vassallo Paleologo widersprechen der Behauptung und verweisen auf den vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) festgelegten Vorrang des EU-Rechts vor nationalen Gesetzen in Konfliktfällen. Jüngste italienische Gerichtsentscheidungen, darunter eine Vorlage an den EuGH, stellen die Vereinbarkeit von Melonis Dekret mit EU-Richtlinien in Frage, insbesondere mit der Richtlinie 2013/32, in der die Kriterien für sichere Herkunftsländer festgelegt sind. Die Justiz bekräftigt damit ihre Verpflichtung zur Einhaltung des EU-Rechts, was im Widerspruch zur Haltung der Regierung steht. Diese juristische Auseinandersetzung ist Ausdruck der Spannungen, die derzeit in Italien herrschen, was die Unabhängigkeit der Justiz anbelangt und die Rolle der EU in der Asylpolitik.
Nach einer Marathonsitzung hatte die Regierung von Giorgia Meloni spät abends im Palazzo Chigi auf einer Pressekonferenz ihr neues Gesetz vorstellt, das definiert, welche Herkunftsländer für die beschleunigten Asylverfahren, denen sich Migranten nun unterziehen müssen, als sicher gelten. Zuvor hatte ein Gericht in Rom beschlossen, dass zwölf Männer, die in den neuen Aufnahmezentren in Albanien untergebracht waren, nach Italien gebracht werden müssen.
Der Fall hat einen Konflikt zwischen der Justiz und der Regierung ausgelöst und droht das von Rom im November 2023 mit Tirana unterzeichnete Asylabkommen zu stoppen. Dieses hat bereits zur Errichtung von zwei von Italien verwalteten Haftzentren in Shengjin und Gjadër auf der anderen Seite der Adria geführt.
Ungeachtet dieser Kontroverse greift Giorgia Meloni die Richter weiter an, genauso wie sie es vorher mit NGOs getan hatte. „Ich glaube nicht, dass Richter entscheiden sollten, welche Länder sicher sind, sondern die Regierung“, sagte die Premierministerin am 18. Oktober und machte deutlich, dass sie die Auslagerung von Asylanträgen fortsetzen wolle.
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Auf einer Pressekonferenz vom 21. Oktober beschuldigte der ehemalige Richter und aktuelle Justizminister Carlo Nordio, Mitglied der rechtsextremen Partei Fratelli d'Italia die Richter, die Leitlinien des Europäischen Gerichtshofs zur Definition sicherer Herkunftsländer nicht „verstanden und gelesen“ zu haben. Weiterhin erklärte er, dass das neue Gesetz der Regierung von den Richtern nicht ignoriert werden könne:
„Es ist ausgeschlossen, dass ein Richter sich über ein nationales Gesetz hinwegsetzt“, sagte er vor der Presse. Doch Experten wie der Rechtsanwalt Fulvio Vassallo Paleologo warfen ihm vor, „vorsätzlich zu lügen.“
Chiara Favilli, Professorin für Europarecht an der Universität Florenz sagt dazu: „Das europäische Recht muss respektiert werden. Auf Grundlage dieser Gesetzgebung wurde die Liste der sicheren Herkunftsländer erstellt. Wir können also nicht einfach beschließen, dieser Definition die von uns gewünschte Bedeutung zu geben.“
Rechtsanwalt Gianfranco Schiavone, Präsident des Italienischen Solidaritätskonsortiums und Mitglied der Association of Legal Studies on Immigration (ASGI), kommt zu dem gleichen Schluss: „Das EU-Recht steht über dem nationalen; im Falle eines Konflikts zwischen beiden muss letzteres von den Richtern missachtet werden.“ Für Schiavone steht das neue Gesetz im Widerspruch zur europäischen Gesetzgebung, insbesondere zur sogenannten „Verfahrensrichtlinie“ 32 von 2023, wonach ein Land nur dann als sicher gelten kann, wenn es in jedem Teil seines Hoheitsgebiets für alle, also einschließlich Minderheiten sicher ist, was durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 4. Oktober 2024 bestätigt wurde.
Die Rechtsexperten wurden durch den Beschluss des Römischen Gerichtshofs vom 11. November bestätigt. Dieser hatte die Entscheidung über die Inhaftierung von sieben Asylsuchenden an den Gerichtshof der Europäischen Union verwiesen. Die Männer gehörten zur zweiten Gruppe von Migranten aus Ägypten und Bangladesch und waren nach ihrer Rettung im Mittelmeer auf einem italienischen Militärschiff nach Albanien gebracht worden.
In einer Presseerklärung vom 11. November erklärte das Gericht in Rom: „Die Richter hielten es für nötig, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu richten, in dem vier Fragen formuliert wurden, die denen ähneln, die bereits in den letzten Tagen von zwei Spruchkörpern derselben Abteilung gestellt wurden […]. Das Vorabentscheidungsersuchen wurde als das geeignetste Instrument gewählt, um die zweifelhafte Vereinbarkeit der durch das neue Gesetzesdekret eingeführten Regeln mit EU-Recht zu überprüfen.“
Giorgia Melonis Entscheidung, ein neues Gesetz auszuarbeiten und die Rückführung nach Albanien trotz der ablehnenden Stellungnahme der Gerichte fortzusetzen, erinnert an die des konservativen britischen Premierministers Rishi Sunak. Dieser hatte einen vergleichbaren Asyl-Deal mit Ruanda geschlossen. Als der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs Londons Abkommen mit Kigali über die Auslagerung von Asylanträgen nach Ruanda ablehnte, hatte auch er versucht, ein neues Gesetz zu erlassen, um die Entscheidung des Gerichts zu umgehen. In Italien haben auch die Gerichte von Catania, Palermo, Bologna und Rom den Luxemburger Gerichtshof um eine Stellungnahme gebeten.
In seinem Antrag an den Europäischen Gerichtshof zog das Gericht in Bologna eine gewagte Parallele zu Nazi-Deutschland:
„Paradoxerweise könnte man sagen, dass Deutschland unter dem Naziregime für die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung ein äußerst sicheres Land war. Mit Ausnahme von Juden, Homosexuellen, Oppositionellen, Roma und anderen Minderheiten genossen über 60 Millionen Deutsche ein beneidenswertes Maß an Sicherheit. So war es auch im faschistischen Italien. Würde ein Land also als sicher gelten, wenn die Sicherheit der Mehrheit gewährleistet ist, wäre fast jedes Land der Welt ein sicheres Herkunftsland. Der Begriff verlöre dann jedoch jegliche rechtliche Kohärenz“, heißt es in der Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, den Giorgia Meloni als „propagandistisch” bezeichnete.
Am 25. Oktober hatte das Gericht von Bologna den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Stellungnahme zu der von Giorgia Meloni beantragten neuen Regelung ersucht. Der Gerichtshof war gebeten worden, über den Fall eines Asylbewerbers aus Bangladesch zu entscheiden, dessen Asylantrag abgelehnt wurde, weil sein Herkunftsland angeblich als sicher galt. In diesem Zusammenhang sollte der Europäische Gerichtshof auch „eine Reihe von Auslegungskonflikten lösen, die im italienischen Rechtssystem und ganz allgemein bei der Regelung des Verhältnisses zwischen dem Recht der Europäischen Union und dem nationalen Recht aufgetreten sind.“
In der Zwischenzeit wurde der Richter, der die Anrufung des Straßburger Gerichts beantragt hatte, auf social media angegriffen und bedroht, insbesondere wegen seiner Homosexualität. Ein ähnliches Schicksal ereilte Silvia Albano, eine der sechs Richterinnen des Gerichts in Rom, die die Inhaftierung von Migranten in Albanien nicht bestätigten. Sie steht unter Polizeischutz, nachdem sie Morddrohungen und Drohbriefe erhalten hatte.
Ebenfalls unter Polizeischutz steht die Staatsanwaltschaft von Palermo, die sechs Jahre Haft für den derzeitigen stellvertretenden Ministerpräsidenten und Verkehrsminister Matteo Salvini beantragt hat. Er war wegen Entführung und Verweigerung der Amtsausübung angeklagt, weil er als Innenminister im August 2019 mehr als hundert Migranten 19 Tage lang an Bord des spanischen Schiffes Open Arms vor der Küste von Lampedusa festgehalten hatte. Am 20. Dezember wurde Salvini jedoch freigesprochen.
Die Spannungen zwischen der Exekutive und der Judikative in Italien nehmen immer mehr zu. „Es herrscht eine erklärte Intoleranz gegenüber Gerichten, die nicht auf die Weisungen der Regierung reagieren“, prangerte der Präsident der Nationalen Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (ANM), Giuseppe Santalucia, an. „Richter und Staatsanwälte sind jedoch nicht der exekutive Arm der Regierung“, fügte er auf einer außerordentlichen Sitzung am 2. November in Bologna hinzu. Rechtsanwalt Vassallo Paleologo schrieb auf X: „Die italienische Regierung will der Justiz vor dem Urteil im Salvini-Prozess in Palermo einen Schlag versetzen. Und sie drängt auf eine Reform, die die Trennung der Laufbahnen der Richter vorsieht, um ihre Kontrolle über die Staatsanwaltschaften zu verstärken.“ Sein Account wurde inzwischen gesperrt.
Dieser Artikel wurde mit Unterstützung des Europäischen Medien- und Informationsfonds erstellt. Er spiegelt nicht unbedingt die Positionen des EMIF und seiner Partner, der Calouste Gulbenkian Foundation und des Europäischen Hochschulinstituts, wider.
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